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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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an mir zu finden ist – die Ursache bin ich selbst.
     
    Die Durchschwimmung des geografischen Nordpols ist nicht die erste polare Erfahrung des Rekordschwimmers. 2005 durchquerte er bereits die Whalers Bay von Deception Island, einer Insel in der Nähe der subantarktischen Shetlandinseln, deren Oberfläche aus der Spitze eines unterseeischen Vulkans besteht und einen Durchmesser von vierzehn Kilometern hat. An ihrer Küste befand sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die größte Trankocherei der südlichen Hemisphäre, was zur Folge hatte, dass die Wale in der Region beinahe ausgerottet wurden. Am Grund der Bucht haben sich die Skelette abertausender erlegter Wale in der Tiefkühltruhe des Eiswassers erhalten.
    Der Schwimmer hatte sich bewusst dieses Massengrab ausgesucht, um auf das Artensterben und die Ausbeutung der natürlichen polaren Ressourcen hinzuweisen. Für ihn sind die Walskelette – so sagte er, bevor er ins Friedhofswasser sprang – äquivalent zu dem, was mit der Arktis im großen Stil geschehen wird, wenn sie erst einmal eisfrei ist.
    Der Schwimmer wurde auf seinem Weg von zwei Kameras begleitet, eine über und eine unter Wasser. Die Kamera über Wasser folgte den monotonen, beinahe einschläfernden Kraulbewegungen des Schwimmers, zoomte auf sein Gesicht, aus dem nichts abzulesen war, weder Anstrengung noch Ermattung. Was jedoch nicht nur an der Schwimmbrille lag, die die Augen verdeckte und dem Gesicht damit viel von seiner Individualität und Ausdruckskraft nahm, sondern auch daran, dass der Körper wie eine aufgezogene mechanische Konstruktion wirkte, deren Resultat die Schwimmbewegungen waren. Die Unterwasserkamera schwenkte zwischen dem bleichen Körper des Schwimmers und den blankpolierten Riffen, die nicht aus Korallen, sondern aus Skeletten bestehen, hin und her. Sie wurde zum Moderator in einer stumm geführten Diskussion darüber, wie der Mensch gegen seine Biosphäre vorgeht, wie er seinen Lebensraum zu beherrschen sucht, indem er ihn vernichtet. Der Schwimmer, dessen Lebendigkeit die erdrückende Präsenz des Todes unter ihm unterstrich, war in dieser Diskussion das Mikrofon, in das niemand spricht. Fakten besitzen nun einmal die enervierende und den Menschen herausfordernde Eigenschaft, für sich selbst zu sprechen. Nicht der Rekord, der am Ende zu Buche stand, sondern das erschwommene Gesprächsprotokoll, das das Stumme zum Sprechen brachte, stellte die eigentliche Leistung des Schwimmers dar. Vielleicht ist es das, was ihn ins Wasser zieht: diese kurzfristige Auslöschung seiner selbst, die ihn eine Leistung erbringen lässt, bei der die Grenzen zwischen Selbstermächtigung und Selbstverzicht verschwimmen.
     
    Es ist nicht vorherzusagen, wie lange die Wirkung der Wechseldusche anhält. Einmal ist sie nach einer halben Stunde verpufft, ein anderes Mal trägt sie mich durch den Tag. Ein doppelter Espresso kann ein Helfer beim Munterwerden und Wachbleiben sein, er kann aber auch wie ein Gegengift wirken und den Vorhang, den ich gerade von meinem Gesicht weggezogen habe, mit einem Ruck wieder vorziehen. Es ist also eine Art Glücksspiel, das über den weiteren Verlauf des Tages entscheidet, wenn ich die Espressokanne vom Herd hole, den Kaffeesatz aus dem Metallfilter entferne und in den Biomüll werfe, den Filter mit dem zuvor in der Kaffeemühle gemahlenen Kaffee fülle und die Platte auf dem Gasherd anwerfe. Ich bin keine Spielernatur, weshalb es wohl die reine Gewohnheit ist, die mich einen Espresso machen lässt, obwohl die Gefahr besteht, dass ich davon wieder müde werde. All das, was ich mir unter der Dusche förmlich erarbeitet habe, ist dann wie weggeblasen.
    Während sich das Wasser über der Gasflamme erhitzt, um dann über den Filter in den oberen Behälter der Kanne zu gelangen, gehe ich ins Bad, um mich zu rasieren. Die Rasur ist notwendigerweise mit einem Blick in den Spiegel verbunden. Die Prozedur dauert seit kurzem länger als gewohnt, da mir der Spiegel nicht mehr jenes Bild zurückwirft, an das ich mich seit dem Ende der Pubertät gewöhnt habe. Misstrauisch betrachte ich mich, halte dabei die Dose Rasierschaum in der Hand. Wie viele neue graue Haare sich wohl auf meinem Kopf finden lassen? Die Falten auf der Stirn erscheinen mir noch tiefer als beim letzten Mal. Es hilft nichts, sie meiner grüblerischen Veranlagung anzulasten, das lässt sie auch nicht verschwinden. Auch die Tränensäcke scheinen mir einen Tick ausgeprägter als bei der letzten Rasur. Ich habe
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