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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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Programm auf seiner Festplatte gab, auf das er zurückgreifen konnte.
     
    Ich klingle und höre, wie jemand in kleinen, hastigen Schritten den Gang entlangläuft. Die Altbauwohnung liegt im Stadtzentrum, der Aufschlag der Füße klingt schwer und dumpf auf den hölzernen Dielen, obwohl es sich um die Füße eines Kindes handelt, das keine dreißig Kilo wiegt. Die Tür geht auf und ich schaue auf einen blondgelockten Jungen hinunter, der mich aus seinen blauen Augen groß anschaut und mich fragt, wer ich bin, ohne zu ahnen, dass er bei mir mit dieser Frage in gewisser Hinsicht den Nagel auf den Kopf trifft. Mein Blick bleibt auf dem Kind haften, es hat ein hübsches, neugieriges, wenn nicht freches Gesicht und sieht weder Carstens Frau Heike (die brünett ist und klare, sachliche Züge hat) besonders ähnlich noch Carsten, der zwar dunkelblond ist und graublaue Augen, aber weiche, beinah teigige Züge hat, die sich zu einem Gesamteindruck vermischen, der keine hervorstechenden Einzelheiten kennt (man könnte auch sagen: keine Angriffsflächen bietet). Er taucht hinter dem Jungen auf, fährt ihm durchs Haar und macht uns miteinander bekannt. Woraufhin der Junge, der Lucas heißt, sich gegen die Beine seines Vaters lehnt und »Hallo« sagt, während Carsten mir die Hand gibt, als wäre ich ein Arbeitskollege, der erst seit kurzer Zeit in der Firma ist und den er zum ersten Mal zu sich nach Hause eingeladen hat.
    Als ich die Wohnung betrete, herrscht für einen Moment Unklarheit, ob ich die Schuhe ausziehen soll. Carsten schüttelt nach kurzen Bedenken den Kopf, nicht nötig, sagt er, worauf Lucas protestiert: »Warum muss ich die Schuhe ausziehen und er nicht?« Die Worte kommen stockend, jedoch geballt aus dem Mund des Kindes, es sind kleine Sprachpakete, die aus einer dunklen Röhre auf ein Förderband purzeln und an jenen vorbestimmten Ort befördert werden. Carsten sieht mich unentschlossen an. »Kinder brauchen Regeln, an die sie sich halten können«, sage ich mit jener Altklugheit, die jeder praktischen Erfahrung entbehrt und die meine Mutter an mir hassen gelernt hat, und ziehe mir die Schuhe aus. Habe ich das wirklich gesagt? Wo habe ich das aufgeschnappt? Vielleicht von Sabine, einer weiteren Freundin aus Uni-Tagen, deren Sohn zwar erst ein paar Wochen alt ist, die sich jedoch mit Ratgebern eingedeckt hat, die ausführlich schildern, was zu tun ist, wenn das Kind eingeschult wird. »Lass mir doch meinen Wahn«, schmollte sie, als ich sie auslachte. »Kein Problem«, antwortete ich. »Ist ja schließlich nicht dein erster.«
    »Hier.« Carsten drückt mir ein Paar Hausschlappen in die Hand. Ich beuge mich zu ihm vor, sein zugleich fremdes und vertrautes Gesicht taucht vor mir auf wie eine Erinnerung, die lange in einer Spalte des Gedächtnisses verborgen lag, und ich suche in diesem Gesicht nach Spuren jenes Lebens, das Carsten irgendwie hinter sich lassen will (und irgendwie wohl auch nicht). Falten. Tränensäcke. Dünnes Haar. Wäre ich froh darüber, wenn er erschöpfter aussähe als ich? So kleinherzig dieser Gedanke ist, kommt er mir doch in den Sinn. Ich kann (oder will) mir Carstens bürgerliches Leben und die Doppelhaushälfte, in der es sich abspielte, nicht anders vorstellen als etwas, das auf lange Sicht wie nebenbei und seltsam geräuschlos dem Verschleiß entgegenarbeitet, der Erschöpfung durch Routine, schließlich dem Konsum. Der Alltag erhöht einen nicht, er lässt einen vielmehr in die Knie sinken oder aber aufs Sofa, vor dem der LCD-Fernseher steht (oder neuerdings an der Wand hängt). Carsten hat den Absprung in meinen Augen gerade noch rechtzeitig geschafft, ein paar Jahre später, und es wäre vielleicht zu spät gewesen. Die Familie ist von Anfang an auch ein Projekt irgendwo zwischen Bank und Baumarkt. Geld und Beton sind ein stabilerer Dämmstoff als Gefühle oder Spermien, erst recht, wenn das Projekt nach einigen Jahren zum eigentlichen Partner geworden ist. Spätestens, wenn zwischen Tisch und Bett kein Unterschied mehr besteht und sich die Lust aus dem Haus schleicht wie ein Gast, für den sich niemand zuständig fühlt, beginnen sich Mama und Papa zu verwandeln. Ihre Geschlechtsteile verkümmern, bis sie schließlich abfallen wie verdorrte Blätter. An ihrer Stelle beginnt sich eine Art Kloake auszubilden, ähnlich wie bei Lurchen oder Schlangen. In Umrissen war sie schon vorher erkennbar, nun wird aus einem sekundären ein primäres Geschlechtsmerkmal. An diesen Kloaken leckt
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