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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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stundenlang davor sitzen und sie anstarren und sie immer wieder umgruppieren.« Wie er das sagt – als wären seine Stimmbänder mit Daunen gefüttert –, höre ich heraus, dass er wiederum seinem Sohn stundenlang dabei zusehen kann.
    Carsten taucht aus seiner kurzen Versenkung empor und schaut mir das zweite Mal an diesem Abend direkt in die Augen. Das ist neu an ihm, früher ist er einem solchen Blick ausgewichen. Er war nicht wirklich schüchtern, nur zurückhaltend, und respektierte die Intimsphäre eines anderen ebenso, wie er wollte, dass man seine respektierte. Was Alex natürlich immer wieder dazu verleitete, den Augenkontakt mit ihm zu suchen, eine kindische Provokation, auf die Carsten damit reagierte, dass er lernte, durch Alex förmlich hindurchzusehen. Unser Augenkontakt hat gar nichts Provokantes, eher etwas Vertrautes, was mich umso mehr überrascht, als ich mir anfangs gar nicht sicher war, ob die Zeit Reste unser Freundschaft übrig gelassen hatte oder ob wir einander als Fremde gegenüberstehen würden, voller Erinnerungen und doch sprachlos.
    »Ich hoffe, du hast genug Geld dabei«, sagt Carsten.
    »Wieso?«
    »Lucas wird dir gleich eine seiner Figuren verkaufen wollen. Hoffnungslos überteuert, natürlich.«
    »Ich dachte, die sind sein ganzer Stolz?«
    »Sind sie auch. Aber Geschäft ist Geschäft.«
    »Mit drei Jahren? Wo hat er das denn her?«
    »Weiß ich nicht. Vor kurzem kam er damit an. Hat mir eine Figur angeboten. Für viertausend Euro.«
    »Viertausend? Kein schlechtes Geschäft? Und? Hast du bezahlt?«
    »Ja.«
    »Wie viel?«
    »Vier Euro.«
    »Immerhin.«
    »Er hat dann die Figur zurückgekauft. Für einen Euro.«
    »Na, der hat’s drauf. Der wird mal ordentlich Kohle machen. Von dem könnte ich mir eine Scheibe abschneiden«, sage ich und weise damit lächelnd auf ein Problem bei mir hin: die Tatsache, dass ich fürs Geschäftliche – dieser Lust, sich über dem Abgrund zwischen Investition und Gewinn zu bewegen – gänzlich unbegabt bin und mich immer dagegen gesträubt habe zu lernen, wie man sich gut verkauft, ein Dilemma, mit dem ich – vor allem unter studierten Geisteswissenschaftlern – jedoch nicht allein dastehe.
    »Wir haben alle unsere Baustellen«, sagt Carsten. Ich denke, es tut ihm gut zu wissen, dass es auch bei mir nicht gerade rund läuft. Wenn bei mir alles zum Besten stünde, könnte das leicht eine Schieflage ergeben, die einem weiteren Kontakt hinderlich wäre.
    »Noch einen Kaffee? Also, ich brauch noch einen. Mit so einem Kind bist du ständig beschäftigt. Das schlaucht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie andere das ohne Kindermädchen schaffen.«
    »Dann bleibt die Frau halt zuhause, bis das Kind aus dem Gröbsten raus ist.«
    Carsten grinst. »Die Frau.«
    »Ist doch so. Wie viele Männer kennst du, die zuhause bleiben?«
    Carsten zieht die Augenbrauen hoch und löffelt den Kaffee in den Metallfilter. »Wie andere ihr Leben gestalten, solange es das meine nicht stört, geht nur sie etwas an.«
    »Wo ist eigentlich deine Tochter?«, frage ich hastig, einerseits beschämt, andererseits aber auch verärgert über seine Worte, die ich als Maßregelung empfinde.
    »Schläft bei einer Freundin.«
    Eine Stille tritt ein, die auch für die unterschiedlichen Standpunkte steht, von denen wir ausgegangen sind, und für die unterschiedlichen Erfahrungen, die wir dementsprechend gemacht haben.
    »Ich weiß nicht, warum«, sage ich, »aber ich finde, das Gespräch hat gerade etwas Absurdes.«
    Carsten entzündet mit einem Feuerzeug die Gasflamme und stellt die Kanne darauf. »Ich glaube, das kommt daher, weil du noch unverheiratet bist und keine Kinder hast.«
    Ein kleiner Satz nur, der eine Tatsache gelassen zur Sprache bringt und mir dennoch einen kleinen Stich versetzt. »Wahrscheinlich.«
    Carsten kann das natürlich nicht wissen, aber meine ablehnende Haltung, was Heirat und Kinder betrifft, gab den Ausschlag dafür, dass meine letzte Freundin mit mir Schluss gemacht hat. Das ist nun über ein Jahr her. Sonja wollte ein Heim und endlich »ankommen«, wie sie es nannte. Vor allem aber wollte sie ein Kind. Mir erschien das so weit entfernt wie der Nordpol, und ich hätte, um mich dazu durchringen zu können, einer Energie bedurft, einer Fähigkeit, mich zu konzentrieren, die – gemessen an meinen bescheidenen Verhältnissen – wohl der des Polarschwimmers entsprechen müsste. Das Irritierende an ihrem Kinderwunsch war, dass er nicht von Anfang an da war und
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