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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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die Schatten in Platons Höhle. Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar« – eine Ansicht, die sein Großvater sicher sofort unterschreiben würde.
    Er setzt das Gespräch fort, als wäre es nicht unterbrochen worden. Und wahrscheinlich hat es für ihn diese Unterbrechung auch nicht gegeben, weil Kinder gewohnte Abläufe bedenkenlos durcheinanderbringen und einem nichts anderes übrigbleibt, als die bereichernde Störung, die sie darstellen, in die eigene Ordnung zu integrieren – oder aber »durchzudrehen«, wie Sabine es ausdrückt, eine alleinerziehende Mutter, deren Nerven zwischen Babyphone und Mutter-Kind-Gymnastik im einen Augenblick unzerstörbar wirken, um im nächsten förmlich in Stücke gerissen zu werden.
    Ich verkneife mir die Frage, ob Carstens Anspielung auf die Kaffeemaschine in gewisser Weise vielleicht etwas über seine Ehe aussagt. Auch vermeide ich es, ihn danach zu fragen, wie die Kinder auf die Trennung reagieren – eine Frage, die nun wirklich jeder Vernunft entbehrt und nur dazu dient, sich an den Gefühlsregungen des Gegenübers zu weiden, seiner Hoffnung, seinem Zweifel. Denn wie sollen sich die Kinder schon fühlen? Euphorisch vor Glück?
    Die Neugier hat mich hergetrieben, vielleicht auch der Wunsch, für kurze Zeit meine eigenen Probleme aus dem Kopf zu bekommen und Platz zu machen für die Probleme eines anderen. Nun, da ich meinem alten Freund gegenübersitze, stelle ich mir jedoch vor, wie es wäre, in seiner Haut zu stecken, und halte mich mit Fragen zurück – vielleicht auch deshalb, weil ich mir die Möglichkeit auf ein weiteres Treffen nicht verderben möchte.
    Ein gelber Plastikball, dem schwarze Linien und Buchstaben das Aussehen eines Fußballs verleihen, knallt gegen das Küchenregal, prallt daran ab und bahnt sich seinen Weg durch Stuhlbeine hindurch unter den Küchentisch, wo ich ihn mit der Fußsohle stoppe. Lucas kommt um die Ecke, sieht mich erwartungsvoll an. Kurz tue ich so, als würde ich den Ball nicht mehr hergeben wollen. Das Kind weiß nicht, was es davon halten soll. Es blickt zu seinem Vater, der zuckt nur mit den Schultern und ist wahrscheinlich neugierig zu sehen, wie sein Sohn mit der Situation zurechtkommt. Wird Lucas jetzt zornig werden? Weinen? Nichts davon: Selbstbewusst stellt er sich vor mich hin und macht lautstark seinen berechtigten Anspruch geltend: »Mir!« Dagegen lässt sich nicht viel einwenden, der Ball gehört ihm und wir befinden uns in der Wohnung seines Vaters. Als ich die Rückgabe dennoch verweigere, beharrt das Kind und brüllt mir noch lauter entgegen als beim ersten Mal: »Mir!« Um das Kind nicht grundlos zu verstimmen und vielleicht doch noch zum Weinen zu bringen, ziehe ich den Ball unter dem Tisch an mich, hebe ihn vom Boden auf und übergebe ihn feierlich an Lucas, indem ich laut »Hier« sage. Carsten lacht, wahrscheinlich wegen des anspruchslosen und doch passenden Reims, ich lache mit. Zu guter Letzt wird auch Lucas von dieser Heiterkeit erfasst und wirft den Ball in die Luft, versucht ihn vergeblich zu fangen, wirft ihn wieder in Luft – eine kurze Entfesselung sinnbefreiter Lebensfreude, zu der der Junge in rascher Abfolge so lange »Hier« und »Mir« ruft, bis es Carsten genug ist. Er greift sich den Ball, aber Lucas hat sich in einen kleinen Rausch hineingesteigert, und als er bemerkt, dass der Vater den Ball nicht mehr hergeben will, brüllt er, als ginge es um Leben und Tod, schrill »Mir«. Wenn er will, dass wieder etwas Ruhe einkehrt, muss Carsten weitermachen oder das Interesse des Jungen vom Ball weg auf etwas anderes ziehen. Er schlägt ihm vor, mir doch seine »tollen neuen Figuren« zu zeigen, weil ich sie – wie ich nun erfahre – wahnsinnig gerne sehen würde. Ich steige darauf ein und behaupte, ich hätte auch viele solcher Figuren zuhause. Lucas schaut mich etwas ungläubig an. »Wie viele denn?« »Viele«, wiederhole ich einfallslos, und setze nach: »Darf ich deine sehen? Bitte.« Kurz steht Lucas wie angewurzelt vor mir, wahrscheinlich ahnt er, dass es sich um eine Finte handelt, hat es aber im nächsten Augenblick schon wieder vergessen. Der Ball ist im selben Moment uninteressant geworden, er wirft ihn nicht einmal von sich, sondern lässt ihn einfach fallen und rennt davon. Carsten schaut mich an. »Herr der Ringe«, sagt er. »Sein ganzer Stolz.« »Herr der Ringe? Bisschen jung dafür.« »Die Geschichte kapiert er natürlich noch nicht. Die Figuren gefallen ihm einfach. Er kann
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