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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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oder auf der Anrichte unter dem Badezimmerspiegel wiederfindet. Das Glück dieser Art des Einkaufens liegt eher in dem, wovon man bis zum Bezahlen der Rechnung nicht wusste, dass es einem fehlt.
    »Das ist ähnlich wie mit dem Sex.«
    »Aber dir ist doch nicht die Lust auf Sex abhandengekommen, oder?«
    Sie schmunzelt. »Nicht völlig, natürlich. Aber es ist schon ein großer Unterschied zu früher. Es verliert sich halt mit der Zeit. Das ist übrigens bei vielen Männern nicht anders. Aber im Unterschied zu uns Frauen können sie das niemals zugeben. Vor anderen zumindest nicht. Manche nicht mal vor sich selbst. Die nehmen dann lieber Viagra, auch wenn sie in Wahrheit gar keine besondere Lust drauf haben.«
    »Mit dem Shoppen ist es also wie mit dem Ficken?«
    Sie zieht die linke Augenbraue hoch, schmunzelt. »Das macht dir Spaß, vor mir solche Ausdrücke zu gebrauchen, was? Ich weiß schon, du willst mich jetzt nur dazu bringen, auch ausfallend zu werden, aber ich tu dir den Gefallen nicht, da kannst du lange darauf warten.«
    Die Stiege windet sich den Berg entlang, die steinernen Absätze und das aus dunklen Metallstreben bestehende Geländer lassen es so aussehen, als wäre sie dem grauen Fels nicht hinzugefügt worden, sondern wäre ihm entwachsen wie ein Zahn dem Kiefer. Der ganze Berg ist im Grunde nichts als ein großer Felsen, auf dessen Oberfläche sich entgegen aller Erwartung Leben ausgebildet hat. Bäume, Gräser und Pilze wachsen, Vögel zwitschern, und die Menschen gehen dort spazieren wie in einem Park, den die Natur großmütig für sie angelegt hat. Das Ende der Treppe ist vom Fuß des Anstiegs aus nicht ersichtlich, sie verschwindet plötzlich hinter Bäumen. Die Absätze der Stiege sind noch nicht frei vom Eis, die Gefahr, auszurutschen, ungleich größer als zu ebener Erde. Obwohl es sich um kaum mehr als hundert, durch die Anlage der Stufen jedoch auseinandergezogene Höhenmeter handelt, befällt mich bei der Vorstellung, mit meiner Mutter die Stiege hinaufzugehen, ein ungutes Gefühl.
    »Ich glaube, du hast recht. Es ist wirklich eine Schnapsidee. Besser, wir kehren wieder um oder gehen in die Altstadt einen Kaffee trinken«, sagte meine Mutter.
    »Jetzt umkehren, wo wir es bis hierher geschafft haben? Wirklich nicht!«
    »Die Stiege ist vereist, da rutscht man ganz leicht aus.«
    »Wir gehen die Sache ganz langsam an. Ich werde einen Fuß vor den anderen setzen und mich gut festhalten. Wir können ja auf der anderen Seite mit dem Lift wieder hinunterfahren.«
    »Ich dachte, du hättest Angst, dir was zu brechen?«
    »In meinem Alter hat man diesbezüglich immer Angst. Angst hinzufallen. Angst vor einem Husten, der nicht weggehen will. Vor einem ungewöhnlichen Druck in der Brust. Angst davor, zum Arzt zu gehen und die unwiderrufliche Diagnose zu hören. Gleichzeitig diese Gleichgültigkeit, man denkt sich: Was soll’s, ob es gut war oder schlecht oder einfach nur so lala: Ich habe mein Leben gelebt.«
    Sie sieht mich ausdruckslos an, erwartet nicht, dass ich etwas dazu sage, und setzt den ersten Fuß auf die Stiege. »Gehen wir.«
    Jeder ihrer Schritte ist wie ein leerer Eimer, der in einen tiefen Brunnen fällt. Ihr Mund ist weit offen, die Zahnreihen sind auf eine Weise entblößt, dass man an das Skelett denken muss, dessen Teil sie sind. Sie atmet, als wären wir den Weg bis hierher ebenso bergauf gegangen. Nach zehn, fünfzehn Metern legt sie eine kleine Pause ein und beginnt, sich die Strecke einzuteilen. Sie zieht sich mit einem Arm am Geländer in die Höhe wie ein Bergsteiger an einem Seil, der andere hängt wie leblos an ihr hinunter. Ich gehe hinter ihr, halte mich ebenfalls am Geländer fest. War ich anfangs darauf vorbereitet, sie aufzufangen, richte ich mich nun darauf ein, dass ihr auf dem Weg nach oben die Kraft ausgeht, sie nicht mehr weiterkann.
    »Meine Güte«, schnauft sie, »meine Muskeln müssen sich zurückgebildet haben. Wenn sie überhaupt noch da sind.«
    »Das kommt davon, weil du keinen Sport mehr machst wie früher. Und weil du überallhin mit dem Auto fährst, nie das Fahrrad nimmst, das ich dir geschenkt habe.«
    »Den Sport habe ich nur gemacht, weil ich gut ausschauen und schlank bleiben wollte. Heute ist mir das egal, ob ich den Leuten gefalle oder nicht. Mit dem Fahrrad hast du allerdings recht. Einmal wollte ich damit fahren, da habe ich festgestellt, dass mir jemand bei den Reifen die Luft herausgelassen hat. Das war zugleich mein erster und auch
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