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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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dangerous …
    Es war nicht wirklich finster. Kerzen brannten. Wer nicht mehr wusste, was tanzen sein konnte – Headbanging, Schweiß, der von den Haarspitzen in die Gesichter um einen herum spritzte –, der erinnerte sich nun daran. Wer glaubte, dass aus alten Freunden nur beste Freunde werden können oder aber Bekannte, die zu treffen irgendwann unangenehm wird, sodass man lieber die Straßenseite wechselt, wenn man sie von weitem sieht – der fiel zumindest für die Dauer von Smells Like Teen Spirit von diesem Glauben ab.
    … here we are now, entertain us …
    Es gab keine Gespräche mehr. Stattdessen Blicke und Gesten, vom Licht gesättigt wie Polaroids.
    Ich entdeckte Carsten und sah, wie es ihm Freude bereitete, ihn einmal auszuspucken, den faden Brei aus Ordnung, Gewissenhaftigkeit und »Jugend war gestern«.
    Alex sah sich in Bewegungsabläufe verwickelt, die seiner angezüchteten Schwammigkeit alles abverlangten. Dennoch wirkte er in seinem Element.
    Steffens Gesicht erschien mir heute glatter als vor fünf Jahren. Für ihn spielte es keine Rolle mehr, ob die Musik von Lou Reed oder Nirvana kam. Wenn wir in seinen Kissen lagen, dröge, unwillig, scharwenzelte er um uns herum, dass man sich nach einem Knopf sehnte, mit dem man ihn ausschalten konnte. Wenn wir zugeknallt vom Boden abhoben, die Köpfe hin und her rissen, dann verhielt er sich so, als wäre Grunge Bestandteil eines Wellness-Programms. Die vermeintliche Geschäftigkeit und die vermeintliche Gelassenheit waren in Wahrheit eins. Er ließ sich von keiner Musik mehr – geschweige denn von einem Menschen – den Takt vorgeben, er hatte offensichtlich zu einem eigenen Rhythmus gefunden.
    … and always will until the end …
    Eine Art Rutsche verlief quer durch den Raum: Raus aus der Scheiße, rein ins Vergnügen! Wobei unsere persönliche Scheiße im Vergleich zu jemandem, dem wirklich etwas Schreckliches widerfahren war oder den existenzielle Sorgen plagten, natürlich nur die runtergekommene Variante eines Privilegs darstellte. Ob wir angestellt, selbständig oder arbeitslos waren; ob wir Single waren oder Kinder hatten – so selbstverständlich, wie wir Sneakers trugen, so selbstverständlich kleideten wir uns in die Selbstbezogenheit des einigermaßen abgesicherten Mittelstands. Immerhin konnten wir sie noch ablegen, wussten wir, dass es darunter noch etwas anderes gab. Die Frage war nur, wie lange dieses Wissen inmitten von Haftpflichtversicherungen, Bausparverträgen, Einbauküchen, Kindertagesstätten, Fernreisen, Theaterbesuchen, Pendlerpauschalen, Singlebörsen, Fertiggerichten, Au-pair-Mädchen und biologischen Uhren vorhielt.
    … hello, hello, hello, how low? hello, hello, hello, how low? hello, hello, hello, how low? …
    Sonja machte sich leicht, sodass ich ihre Oberschenkel mit beiden Armen umfassen und sie mühelos vom Boden hochstemmen konnte. Ihr Oberkörper bedeckte mein Gesicht. Dann begann ich mit ihr auf und ab zu springen, wobei ich aufpassen musste, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sonja streckte die Hände nach der Decke aus. Sie war glücklich, abgehoben zu sein, ich war glücklich, dass sie mir ihren Körper anvertraute. Sie rief etwas, das ich bei dem Lärm nicht verstehen konnte. Sie beugte sich zu mir herunter: Höher! Höher! Ich wollte mein Bestes versuchen – doch so weit kam es nicht, da ich angerempelt wurde und nach hinten fiel. Ich konnte Sonja rechtzeitig loslassen, sie strauchelte, konnte sich jedoch auf den Beinen halten, während ich am Boden landete. Dort blieb ich fürs Erste liegen und sah vor mir den Grund für unseren Fall.
    Micha und Ulrike tanzten sowohl mit- als auch gegeneinander. Sie stießen zusammen, prallten zurück, fanden wieder zusammen, hüpften, drehten sich und entfernten sich wieder voneinander. Ihre Körper krümmten und dehnten sich, sie schleuderten ihre Gliedmaßen von sich. Sie zogen immer weitere Kreise, beanspruchten einen immer größeren Teil der Tanzfläche für sich.
    Sonja bewegte sich wieder zur Musik, wollte, dass ich mitmachte. Ich konnte meine Augen jedoch nicht von Ulrike und Micha lassen. Die Abstände zwischen Anziehung und Abstoßung wurden kürzer. Der Radius ihrer Bewegungen, der immer größer geworden war, wurde mit einem Mal ganz klein, bis schließlich zwischen ihren Körpern keine Hand mehr Platz hatte. Ulrike schrie Micha ins Gesicht. Es waren keine einzelnen Worte, sondern Sätze, die von kurzen Pausen unterbrochen waren, in denen sie unkoordiniert
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