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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr
Autoren: Peter Truschner
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unerklärliche Schulterzucken sein weiteres Leben betreffend sich seiner bemächtigt hatte. Es war ein Prozess, der nicht in einem großen Sprung, sondern in Trippelschritten vor sich gegangen war. Man konnte nicht einmal sagen, dass er etwas dagegen hatte, wenn man sich um ihn kümmerte. Aber er zog hundert Gramm Parmaschinken einem guten Rat entschieden vor. Warum es so gekommen war, ob nicht nur der Alkohol oder das Kiffen dafür verantwortlich waren, sondern privates oder familiäres Unglück, konnte ich nicht sagen. Alex mochte seinen Vater nicht besonders, der in seinen Augen das Paradebeispiel eines Spießers abgab, liebte jedoch seine Mutter. Mehr wusste ich dahingehend nicht von ihm, und hätte ich ihn danach gefragt, hätte er wahrscheinlich nur eine witzige Bemerkung dafür übriggehabt. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, und es lag mir in Wahrheit nicht genug an ihm, um hinter seine Fassade zu blicken und mehr über ihn zu erfahren.
    »Genieß es, solange du kannst.« Ulrike wandte sich an Sonja, als wäre sie ihre kleine Schwester. »Weißt du, anfangs überschlägt er sich förmlich.« Sie sah mich an. »Es dauert aber nicht lange, da ist ihm schon der Weg zum Telefon zu weit.«
    »Lass doch …«, sagte Micha, bevor Sonja darauf reagieren konnte. Er hasste Streit. Etwas geriet aus seiner vorgesehenen Bahn, trudelte im Raum herum und wurde zu einer Gefahr.
    »Was willst du denn?« Ulrikes Mund war ein Spalt in der Mauer ihres Gesichts. »Glaubst du, du kannst mir Vorschriften machen? Wer bist du überhaupt? Hau doch ab, wenn dir was nicht passt.« Sie kniff die Augen zusammen.
    Die allgemeine Benebelung war vorangeschritten. Niemand schreckte hoch. Keiner fühlte sich dafür verantwortlich, die Wogen zu glätten, die Ulrike verursachte. Es herrschte eine gewisse Arena-Atmosphäre: Man lag herum und hätte nichts dagegen gehabt, anderen beim Kämpfen zuzusehen. Sogar Steffen, der ansonsten empfindlich auf das Strömen von negativer Energie – wie er es nannte – reagierte, drehte sich zwar um, wartete jedoch erst einmal ab.
    Obwohl Ulrike über mich gesprochen hatte, verhielt ich mich so, als ginge mich das nichts an. Ich saß mit angewinkelten Beinen da und entfernte mit Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand Tabakkrümel von meiner Zungenspitze. Sonja erwiderte Ulrikes Sticheleien auf ihre Art: Sie stellte die Bong vor sich ab, rückte ganz nah an mich heran und lehnte den Kopf an meine Schulter. Ich streichelte mit dem Handrücken ihre Wange. In dem Moment, da wir uns küssten, stand Ulrike mit einem Ruck auf und verließ den Raum. Alle schauten ihr hinterher – alle außer Micha. Er saß reglos da, in sich zusammengesackt wie ein Gebilde aus Sand.
    Nach einer Weile erinnerte sich Steffen seiner Pflichten als Gastgeber. »Ich schau mal nach ihr«, sagte er in einem Ton, der mir das Gefühl vermittelte, dass ein Teil von ihm liegen blieb und weiterkiffte.
    »Warte«, sagte Micha. Obwohl sein Joint bis dahin eher niedergebrannt war, als dass er ihn geraucht hatte, sagte er: »Mir ist der Tabak eigentlich auch zu scharf. Vielleicht versuch ich’s ja mal mit einer Bong?«
    »Aber gern«, sagte Steffen.
    Micha lächelte.
    Nach ein paar Minuten kam Steffen mit Ulrike zurück. Als sie sah, wie Micha sich gerade über die Bong beugte und seinen Mund gegen das Glas presste, lachte sie auf. Es schien zuerst, als lachte sie ihn aus, als wollte sie ihn ein weiteres Mal demütigen. Micha ließ sich durch ihr Lachen jedoch nicht irritieren und widmete sich weiter der Bong. Es war die erste souveräne Handlung, die ich in Zusammenhang mit Ulrike bei ihm beobachten konnte.
    Aber Ulrikes Lachen war nicht höhnisch gemeint. Sie war einfach verblüfft, ihn so zu sehen. Sie setzte sich neben ihn, legte ihm den Arm auf die Schulter, fuhr ihm durchs spärliche, dunkle Haar. Micha küsste sie auf die Wange, ein hingeworfener Kuss zwischen Freundschaft und Begehren, einander bekannt und einander unbekannt sein. Dann bot er ihr die Bong an. Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob er wirklich entspannt war, oder ob er seine Gefühle unter dieser Entspannung wieder nur verbarg. Aber was ging es mich an? Ich brach mir ein Piece ab und hielt das Feuerzeug darunter.
    »Love is all you need«, sang Alex, was seltsam aus seinem Mund geklungen hätte, wenn man nicht gewusst hätte, dass Alex die Beatles hasste.
    Einige Zeit später tanzten wir zur Musik von Nirvana.
    … with the lights out, it’s less
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