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Das fünfte Verfahren

Das fünfte Verfahren

Titel: Das fünfte Verfahren
Autoren: Léo Malet
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diesen Krieg, der,
neben anderen Unannehmlichkeiten, unsere Züge die phantasievollsten Umwege
fahren ließ.
    Unter der weiten, verrauchten
Glaskuppel herrschte schmieriges Tageslicht. Ich nahm mein Gepäck und stieg
aus. Auf dem Bahnsteig wimmelte es von verschlafenen Gestalten.
    Plötzlich geriet die Schlange der
Reisenden ins Stocken. Ich sah, wie der Bahnhofsvorsteher, gefolgt von zwei
Uniformierten, zu einem Waggon eilte. Der Beamte machte ein Gesicht, das mich
und mein Interesse weckte. Ich lief hinter den drei aufgeregten Männern her.
    Der Polizist vor der Waggontür sah
ganz so aus, als wolle er niemandem erlauben einzusteigen. Ich ging um den
Waggon herum und stieg auf der anderen Seite ein. Diese Seite war völlig
unbewacht. Ein paar Leute versperrten den Gang. Ich schob mein Gesicht zwischen
die Köpfe der anderen Schaulustigen und sah... nichts. Außer vier Männern in
einem Abteil, einer davon in Uniform, die sich über den Boden beugten. Neben
ihnen, das Gesicht von einem nervösen Zucken gequält, stand der bedauernswerte
Bahnhofsvorsteher. Eine Frau rief nach einem gewissen Jules, dem sie dann
erklärte, daß das dieser grobe Mensch sei, der in Marseille eingestiegen sei.
    Ich verdrehte mir ein wenig den Hals,
um sie zu sehen. Dort, mit dem Rücken zu mir, stand die Xanthippe, die mich
wohl erblickt haben mußte, da sie Jules auf mich aufmerksam machte. Es war die
bissige Frau, mit der ich mich gestern abend in die Haare gekriegt hatte, die,
die mir mit ihrer Landung auf den Wecker gegangen war.
    „Was denn?“ rief ich. „Ist dieses
Schauspiel hier nur was für Zimtzicken wie Sie? Hab ich kein Recht, mir das
anzusehen?“
    Alle waren einigermaßen überrascht,
als sie mich so daherschimpfen hörten. Doch die Zimtzicke schlug alle Rekorde.
Sie wich zurück, wie von der Tarantel gestochen. Von Natur aus war sie schon
blaß, jetzt wurde sie weiß wie die Wand.
    „Der Schnäuzer!“ keuchte sie.
    Und kippte aus den Latschen. Noch
jemand, auf den mein Oberlippenbärtchen großen Eindruck machte. Da ich etwas
Geheimnisvolles witterte, trat ich einen Schritt vor. Der Mann namens Jules
faßte mich am Arm.
    „Versuchen Sie nicht, zu fliehen!“
    „Ich habe nicht die Absicht“,
erwiderte ich.
    Argwöhnisch packte er noch kräftiger
zu. Und dann, schnell, mit zitternder Stimme, erklärte er der Runde, daß ich in
Marseille einen Schnäuzer gehabt und ihn mir offenbar während der Fahrt
abrasiert hätte. Dann folgten noch ein paar Bemerkungen über mein grobes Benehmen
und meine verdächtigen Äußerungen, die seine Frau aufgebracht hätten, usw. usf.
    Jemand trat aus dem Abteil, biß sich
auf die Lippen und machte der Festrede ein Ende. Steifer Kragen, zweireihiges
Jackett, gestreifte Hose, an den Knien staubig. Man sah ihm den Kommissar schon
von weitem an. Er musterte mich bestürzt und fragte mich dann, so als träume
er:
    „Sie hatten einen Schnäuzer? Warum
haben Sie ihn abrasiert?“
    „Braucht man neuerdings dafür einen
Erlaubnisschein der Kommandantur?“ fragte ich zurück.
    Und damit ihm die Augen vollends aus
den Höhlen traten:
    „Hören Sie, Kommissar. Angenommen,
eine blonde Spionin will Sie...“
    Ich hielt auf der Stelle die Klappe.
Die Männer im Abteil waren etwas zur Seite getreten, und ich hatte mich trotz
Jules’ festem Griff noch ein wenig vorgedrängt. Da erblickte ich...
    Überall, wo dieser Reisende seinen
Ausweis vorgezeigt hätte, um die Demarkationslinie zwischen Leben und Tod zu
überschreiten, hätte man ihm ohne weiteres das Visum erteilt. Mit Glanz und
Gloria. Nur wegen des Blutes, das er vergossen hatte.
    Doch das war das Übliche, Banale.
    Dagegen...
    Der Tote trug einen schmierigen
Trenchcoat, Knickerbocker und einen braunen Hut. Genauso wie ich. Außerdem
schmückte ein hübsches Bärtchen seine Oberlippe.
    Wenn ich einen Bruder hätte, wär’s der
hier ungefähr gewesen.
     
    * * *
     
    Ungefähr. Denn wir sahen uns nur
oberflächlich ähnlich, auf den ersten Blick. Nichts ähnelt einem Trenchcoat
mehr als ein Trenchcoat, vor allem, wenn beide nach einer reinigenden Hand
verlangen. Zwei braune Hüte kann man leicht verwechseln. Das gleiche gilt für
Knickerbocker. Von der Ähnlichkeit der Kleidung und des Schnäuzers, den ich
nicht mehr hatte, abgesehen, unterschieden sich unsere Gesichter deutlich
voneinander. Das des Toten war dicklicher und länglicher als meins. Zwischen
unseren Haaren gab es keinerlei Zusammenhang. Nur wer mich äußerst flüchtig
kannte,
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