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Das fünfte Verfahren

Das fünfte Verfahren

Titel: Das fünfte Verfahren
Autoren: Léo Malet
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mir
politische Meinungen an, die den ihren diametral entgegengesetzt waren. Es
folgte ein gepfefferter Wortwechsel, vor allem mit einer besonders bissigen
Dame.
    Nach diesem Zwischenfall ging es
weiter, munter wie zuvor. Ich brach meine Zelte ab und verdrückte mich samt
Koffer zum anderen Ende des Waggons, wo ich einen freien Platz mit Blick auf
die Landschaft fand.
    Welche Gefühle der staatlich geprüfte
Vamp mir gegenüber im Hinblick auf das neue Europa hegte, wußte ich nicht. Ich
wußte nur, daß ich bereit war, sie vom Fleck weg zu heiraten. Der Grund für
diesen raschen Stimmungsumschwung lag an zwei Beinen, wegen denen Jackie Lamour
vor Neid Krampfadern bekommen könnte. Die Besitzerin dieser unwiderstehlichen
Argumente hatte darüber hinaus ein äußerst bezauberndes Gesicht, Typ blonde
Spionin, was mir ganz und gar nicht mißfiel. Überflüssig zu erwähnen, daß ich
ihr schöne Augen machte. Als Einstieg wählte ich eine Unterhaltung über... die
Landung. Sie warf mir einen Blick zu, der klar und deutlich verriet, daß sie
meinen Annäherungsversuch nicht für übermäßig originell hielt. Dennoch deutete
sie hin und wieder so etwas wie ein Lächeln an. Ich brauchte eine gute Stunde,
um zu kapieren, daß das Lächeln ein Grinsen und der Grund dafür mein Schnäuzer
war.
    Beinahe hätte sie ihn geküßt, denn der
Zug bremste plötzlich kreischend ab. Wir waren in Chalon-sur-Saône, wo wir die
Demarkationslinie überquerten. Personenkontrolle. Wir suchten nach unseren
Ausweisen und anderen Dokumenten.
    Die Schiebetür wurde von einem jungen
Offizier der Wehrmacht aufgeschoben. In seinem Schlepptau befand sich ein
junges Mädchen in Uniform. Für eine Deutsche war sie ziemlich schlank. Ihr
Vorgesetzter prüfte, beinahe ohne zu lesen, die Papiere meiner Mitreisenden.
Dann kam ich an die Reihe. Und dafür nahm er sich so richtig Zeit. Der Beruf
eines Privatdetektivs mußte ihm verdächtig Vorkommen. Er überprüfte meinen
Ausweis mit unerklärlicher Gründlichkeit. Von Zeit zu Zeit unterbrach er seine
Schnüffelei, um mir einen bedeutungsvollen Blick zuzuwerfen oder seiner
Kollegin irgend etwas zu zeigen. Schließlich, nach etwa zehnminütiger
Begutachtung meines Passierscheins, der sich als absolut echt herausstellte,
gab er mir meine Papiere zurück. Um seine Lippen spielte ein verständnisvolles
Lächeln. Auch das junge Mädchen lächelte. Als sie sich entfernten, hörte ich
den Soldaten irgend etwas von Polizist und Bruder murmeln. Die
Tatsache, daß ich Privatflic war, weckten bei dem Bruder doch tatsächlich
brüderliche Gefühle. Allerhand!
    Nun sah mich meine schöne Mitreisende
mit ein wenig mehr Interesse an. Ich entschloß mich, die Gunst der Stunde zu
nutzen und eine geheimnisvolle Miene aufzusetzen. Das gehörte sich einfach für
jemanden, dessen Papiere einer so eingehenden Prüfung unterzogen worden waren.
    Der Zug setzte sich wieder in
Bewegung, und ich setzte meine Annäherungsversuche fort. Doch das spöttische
Grinsen wollte nicht1 verschwinden. Plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich
schnappte mir meinen Rasierer, wobei ich an Hélène denken mußte, die sicherlich
triumphieren würde, und ging zur Toilette. Dort beseitigte ich meinen
Schnurrbart. Als ich wieder zurückkam, saßen zwei neue Fahrgäste in unserem
Abteil. Der jüngere von beiden hatte meine Nachfolge angetreten und verkaufte
seinen Salat der schönen Unbekannten. Diese beachtete die Veränderung meines
Aussehens kaum. Ich war aus dem Rennen.
    „Schon wieder ein Bahnhof!“ stöhnte
der junge Mann.
    Tatsächlich verlangsamte der Zug seine
Fahrt.
    „Nein“, widersprach der andere, ein
älterer Herr mit Spitzbart. „Auf der Strecke werden Gleisarbeiten durchgeführt.
Damit werden die wohl nie fertig... Ich fahr die Strecke regelmäßig. Das geht
jetzt schon monatelang so, und jedesmal müssen die Züge einen guten Kilometer
langsamer fahren.“
    „Beinahe im Schrittempo... Zug um
Zug“, witzelte der Jüngere.
    Das war zwar nicht besonders
intelligent, verschaffte ihm aber einen beachtlichen Vorsprung bei der Bemühung
um die Gunst des tollen Weibs.
    Ich zog es vor, ein wenig zu dösen.
     
    * * *
     
    Zehn Uhr mußte es gleich von der
riesigen Turmuhr des Gare de Lyon (Paris, 12. Arrondissement) schlagen, als wir
in den Bahnhof einfuhren. Ich schüttelte mich und blinzelte mit den Augen. Ich
hatte eine belegte Zunge, alle Gliedmaßen taten mir weh, und zum
hunderttausendsten Mal seit September 1939 verfluchte ich
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