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Das fünfte Verfahren

Das fünfte Verfahren

Titel: Das fünfte Verfahren
Autoren: Léo Malet
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konnte mich mit der Leiche verwechseln. Zum Beispiel die Xanthippe, die
so langsam wieder zu sich kam.
    „Ich bin nicht grade sein Doppelgänger...
selbst mit Schnäuzer“, sagte ich zu dem Kommissar und wies mit dem Kinn auf den
Körper am Boden.
    Ich machte ihn auf die Unterschiede
aufmerksam.
    „Sie haben ein scharfes Auge“, stellte
er mißtrauisch fest.
    „Übungssache.“
    Ich befreite mich von Jules, kramte
ein wenig in meiner Tasche und hielt dem Beamten meine Visitenkarte unter die
Nase.
    „Oh!“ machte er und pfiff durch die
Zähne. „Sieh mal einer an!“
    Die Tragödie gefiel ihm offensichtlich
immer weniger. Gerne hätte er zwei Monatsgehälter dafür gegeben, wenn dieser
verdammte Zug in Melun entgleist wäre und man nie wieder etwas von seiner
traurigen Fracht gehört hätte.
    „Die Leute von der Kripo“, verkündete
in diesem Augenblick der Uniformierte.
    Zwei Männer mit Schlapphut kletterten
in den Waggon.
    „Noch ein brauner Hut, ein Trenchcoat
und ein Schnäuzer“, bemerkte ich lachend.
    Auch der Besitzer dieser Attribute
lachte, wobei sich seine Schnurrbarthaare sträubten.
    „Sieh einer an! Nestor Burma!“
    „Hallo, Kommissar“, begrüßte ich meinen
alten Freund Florimond Faroux, der auf diese Amtsbezeichnung seit kurzem
Anspruch hatte.
    „Sie alter Schmeichler, Sie...“
    Er fluchte.
    Über meine Schulter hinweg hatte er
die Leiche entdeckt. „Was hat das zu bedeuten?“ rief er. „Ihr Doppel-Ich?“
    Ja, Florimond war ein gebildeter Mann!
     
    * * *
     
    Das Sonderkommissariat in dem Gare de
Lyon war düster wie alle Orte dieser Art. An den Wänden hing zwischen
Verbotstafeln und zweisprachigen Bekanntmachungen ein Farbfoto des derzeitigen
Staatschefs. Alles war übersät mit dem Schiß der Fliegen des vergangenen
Sommers und schwarz von Staub. Zwei oder drei glutrote Kohlestücke in einem für
diese mageren Jahre zu großen Ofen verbreiteten eine unzureichende Wärme.
    Monsieur Belloir, der Herr dieses
gastlichen Hauses, wippte auf seinem abgeschabten Sessel vor und zurück. Man
konnte seekrank werden. Dabei sah der Mann auch so schon ungesund genug aus.
Wenn er sich mit leerem Blick nicht gerade fragte, warum er nicht den
geruhsamen Beruf eines Fahrkartenknipsers in der Metro gewählt hatte,
betrachtete er übelgelaunt eine kleine Metallscheibe mit gotischen Buchstaben
und Hakenkreuz. Monsieur Belloir besaß die charakteristischen Gesichtszüge
eines gewissenhaften Mitglieds mehrerer ultra-nationalistischer Organisationen.
Seit wir in seinem Allerheiligsten saßen, machte er übrigens aus seinem
fremdenfeindlichen Herzen keine Mördergrube. Selbstverständlich hatten die zwei
Jahre „Besatzung“ ihn keineswegs eines Besseren belehrt.
    „Und dazu noch ein Serbe!“ knurrte er
zum zehnten Mal. „Dreckiger Ausländer!“
    Er schob einen Paß in unsere Richtung,
den man bei der Leiche gefunden hatte. Faroux blätterte vor meinen Augen in dem
Dokument. Es gehörte einem gewissen Milan Kostich, geboren 1903 in Belgrad.
Kostich hatte graue Augen, ein längliches Gesicht, eine hohe Stirn und noch ein
paar andere besondere Durchschnittsmerkmale. Auch der Schnäuzer war erwähnt und
erschien auf dem Foto. In dem Paß lagen ein Ausweis, ausgestellt 1937 von der
Polizeipräfektur Berlin, und der nötige Passierschein zur Überquerung der
Demarkationslinie.
    Das alles, zusammen mit dem
Hitlerabzeichen, das ebenfalls bei der Leiche gefunden worden war, gefiel
Belloir überhaupt nicht. Er, der Ausländer nicht riechen konnte, mußte nun kurz
vor seiner Pensionierung noch über einen stolpern, der zwar kalt, aber dadurch
noch lästiger war, als wenn er lebendig gewesen wäre. Florimond Faroux schien
ebensowenig begeistert zu sein. Auf die Gefahr hin, ihn abzureißen, biß er auf
seinem Schnurrbart herum. Dann widmete er sich seiner Hose und befreite sie von
einem Staubkörnchen. Genau alle vierzig Sekunden veränderte er die Richtung
seines schokoladenbraunen Hutes, wodurch diese Kopfbedeckung, die für einen
anderen als seinen Kopf gemacht schien, auch nicht besser paßte. Endlich gab er
sich einen Ruck.
    „Gehen wir der Reihe nach vor“, sagte
er mit dem Mut des Verzweifelten. Und zu Belloir gewandt: „Wir brauchen einen
Schreiber. Das könnte doch Ihr Sekretär übernehmen...“
    Belloir war einverstanden, erhob sich
mühsam und ging zur Tür, um seinen Untergebenen zu rufen.
    In puncto Trauermiene stand der Sekretär seinem
Chef in nichts nach. Er zündete sich eine Zigarette
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