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TTB 100: Der Traum der Maschine

TTB 100: Der Traum der Maschine

Titel: TTB 100: Der Traum der Maschine
Autoren: Hans Kneifel
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    »Bilder alter Geschehnisse tauchten in seinem Bewußtsein auf, und Geister flüsterten ihm Botschaften über die Begrenztheit des Daseins zu. Bisher glaubte er, seiner selbst und der Zukunft sicher zu sein, und nun ist alles ungewiß. Er sieht die Prozession ungezählter Menschen, die vor seiner Zeit aus dem Nichts in die Welt traten, ihr Leben lebten und wieder ins Nichts verschwanden.«
    Sherwood Anderson.
     
    *
     
    Es war eine merkwürdige Stimmung an diesem Abend. Ein Abend, an dem ein seltsames Licht herrschte; Sonnenlicht nach einem Gewitter. Fahles Licht mit langen Schatten. Die Leute sagten, daß an solchen Abenden unheimliche Dinge geschehen konnten.
    Die kleine Bar war fast leer.
    Sie war schmal und niedrig. Die dunkle Decke war mit allerlei Gegenständen behängt, die man auf dem Flohmarkt gekauft und weiß angestrichen hatte; Bügeleisen, Teile von Trichtergrammophonen und ähnliche Sachen. Der Vorhang, der die Tür ersetzte, bestand aus Schnüren bunter Holzperlen. Die warme, feuchte Luft mischte sich mit dem etwas abgestandenen Geruch des Lokals. Es war kurz vor neun Uhr.
    Aus dem Lautsprecher über der Theke sang Charles Aznavour. Das Mädchen trank ihren Espresso aus.
    »Noch einen, Michel«, sagte sie.
    Der alte Mann nickte und ging an die Maschine. Er klemmte einen Filter voll Kaffee ein und zog einen Hebel hinunter. An der rechten Hand des grauhaarigen Mannes fehlten die vorderen Glieder der drei mittleren Finger. Claudine legte ihre Zigarette auf den Aschenbecher, fuhr sich durch das lange, schwarze Haar und sah nach draußen. Nicholas war sonst nicht unpünktlich, aber heute wartete sie seit fünfzehn Minuten. Die verstümmelte Hand setzte die gefüllte Tasse vor Claudine ab. Das Mädchen legte einen Franc auf das rissige Holz der Theke.
    Die Luft, die jetzt durch den Eingang hereinwehte, roch nach Laub und Benzindämpfen. Langsam wurde es dunkel. Fehlzündungen eines kleinen Citroën hallten durch die enge Straße. Dann herrschte Ruhe.
    Der andere Gast musterte Claudine über den Rand seines Glases. Claudine merkte es nicht. Sie blätterte in einer Zeitung und schien zu träumen. Der Eindruck täuschte; Claudine nahm die Dinge des Lebens so, wie sie waren, nicht schwerer. Sie studierte Sprachen an der Sorbonne. Noch zwei Wochen, dann hatte sie Semesterferien.
    »Scheint heute auf sich warten zu lassen, dein Künstler«, sagte der Alte brummend und stellte dem anderen Gast ein Bier hin. Claudine blickte nach draußen, sah Michel in sein altes, verknittertes Gesicht und schwieg.
    »Die jungen Männer sind auch nicht mehr, was sie früher waren«, knurrte Michel. »Als ich jung war, ließ man sein Mädchen nicht warten.«
    »War eine ganz andere Zeit, vor zehn Jahren«, sagte Claudine. Michel lachte, es klang wie ein trockener Husten.
    »Da kommt er ja, der Künstler«, sagte Michel und nahm eine saubere Tasse von einem Stapel herunter. Nicholas kam herein, setzte sich neben Claudine und legte ihr den Arm um die Schultern.
    »Entschuldige«, sagte er, »aber ich war in schweren Gewissenskonflikten.«
    »Du?« fragte das Mädchen. »Ausgerechnet du?«
    »Natürlich«, sagte er und fischte eine Zigarette aus dem Päckchen, das neben dem Aschenbecher lag. »Ich kämpfte eine Viertelstunde mit mir, ob ich mich rasieren sollte.«
    »Fein, daß dein besseres Ich gesiegt hat«, sagte sie und strich mit dem Handrücken übe seine Wange.
    »Dumme Erfindung, dieser Bartwuchs!«
    »Es gibt dümmere Sachen«, sagte sie. Michel stellte mit einem vorwurfsvollen Blick den Espresso vor Nicholas hin. »Jaja«, sagte er, »die jungen Künstler!«
    »Hat den Vorzug, daß ich berühmt werde, wenn ich sterbe«, sagte Nicholas ungerührt.
    Der alte Mann grinste und zündete sich eine Zigarette an.
    »Was machen wir mit dem angebrochenen Nachmittag?« fragte Nicholas und spielte mit dem Plastikreifen, der an Claudines Handgelenk klapperte. Nicholas hatte vor vier Monaten seinen siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Der junge Mann trug ein hellgraues Sporthemd mit weißen Steppnähten, enge Hosen und einen Gürtel aus Pythonhaut.
    »Ich würde vorschlagen, wir gehen hinunter zur Ile – durch den Boul' Mich und dann die Quais entlang. Anschließend möchte ich William in Öl sehen«, antwortete Claudine.
    »Das ist ein Fußmarsch von hundert Kilometern«, stellte Nicholas fest. »Ich bin ein Greis, hast du daran gedacht?«
    »Eben darum«, sagte sie. »Wandern hält im Alter rüstig.«
    »Hätte William mir
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