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Das Feuer von Konstantinopel

Das Feuer von Konstantinopel

Titel: Das Feuer von Konstantinopel
Autoren: Ingmar Gregorzewski
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namens Felix von Flocke...
     
    Stellt euch einen Bahnhof vor. Groß, duster, eine Kathedrale ganz aus Eisen, in der einem kalter Wind um die Ohren pfeift. Menschen drängeln und schubsen sich gegenseitig. Keiner hat Zeit, alle kennen nur Eile. So viel Hektik, so viel Aufregung wohin man auch sieht.
     
    „Das macht alles nun wirklich keinen Spaß“, sagte Fräulein Romitschka und klammerte ihre rechte Hand noch fester um den Schirm, den sie stets bei sich trug, egal, ob es regnete oder schneite oder die Sonne schien.
    Fräulein Romitschka hastete mit festen Schritten über einen der Bahnsteige, wimmelte lästige Leute ab, die sich nach ihrem Gepäck erkundigten oder ihr ein günstiges Zimmer in der Stadt anboten, die ihr kleine Veilchensträuße zum Kauf entgegenhielten oder die Zukunft voraussagen wollten.
    Auf all diese Angebote antwortete sie mit gleichbleibender Höflichkeit, aber sehr bestimmt: „Danke vielmals! Vielen Dank auch!“ Und das in mehreren Sprachen. Denn Bildung war Fräulein Romitschkas Ein und Alles.
    Immer wieder reckte sie ihren Kopf in die Höhe und versuchte über die Menschenströme zu blicken, teilte dabei mit ihrem Schirm Gruppen von Reisenden, die sich über die Koffer hinweg lebhaft unterhielten. Sie fiel beinahe in einen Gepäckkarren und stolperte über Käfige mit Hühnern und Enten, die sich an jenem Tag nicht auf dem Markt verkaufen ließen und deshalb zurück in ihre Ställe durften.
    Bei all ihrer Eile sah sie niemanden direkt an. So etwas wäre ihr viel zu aufdringlich vorgekommen. Dabei hätte sie nur allzu gerne einen Blick zur Seite riskiert, denn sie hatte das unbestimmte Gefühl, jemand würde sie verfolgen. Aber eine anständige Dame wie sie, hatte das tunlichst nicht zu merken.
    Das schwarze Ungeheuer, das sich dampfend und ächzend in den Bahnhof kämpfte, war die Lokomotive, die die voll besetzten Waggons des Expresszuges „Konstantinopel – Berlin“ hinter sich herzog. Nach so vielen Tagen Schwerstarbeit wirkte die Lok zwar irgendwie müde, aber auch unbesiegbar.
    Der Lokführer lehnte sich wie ein stolzer Held aus dem Fenster der Lokomotive. Dabei strahlten seine weißen Zähne wie Klaviertasten in seinem von Ruß geschwärzten Gesicht. Er winkte den Kindern zu, die die Eltern an der Hand hinter sich herzerrten, ohne dass die eine Ahnung hatten, in welche Richtung sie der nächste Schritt der Erwachsenen führen sollte. Menschen bräuchten Schienen, die sie führten, dachte sich der Lokführer, dann wäre vieles auf der Welt einfacher.
    All diese Eile und Hektik empfand Fräulein Romitschka als anstrengend. Auf einem Bahnhof durfte man nichts verpassen: keine Züge, keine Menschen, keine Uhrzeiten, kein gar nichts! Man musste zurücktreten, vortreten, beiseite treten oder austreten. Man lief, man wartete, man lief schneller und wartete wieder, diesmal länger als zuvor...
    Mit einem gigantischen Schlag rumpelte die Lok gegen die Stahlpoller am Ende der Schienen. Aber am meisten erschrak Fräulein Romitschka über den zischenden Seufzer, der darauf folgte. Geschüttelt von einem mächtigen Ruck blieb der Zug aus Konstantinopel stehen. Er war am Ziel, er war im Bahnhof von Berlin angekommen. Fräulein Romitschka blickte erleichtert, jetzt musste sie nur den richtigen Jungen aus der Menge fischen. Sie brauchte nur noch Felix von Flocke zu finden, dann hatte sie ihre Aufgabe erfüllt.
    Schlagartig öffneten sich hunderte von staubigen Abteiltüren. Polierte Koffer, Damen mit riesigen Hüten, Herren in schweren Pelzen und zappelnde Kinder in Matrosenanzügen wollten alle gleichzeitig in die Freiheit. Endlos viele Stunden waren sie in engen Zugabteilen eingesperrt gewesen. Einige von ihnen waren zu Hause angekommen, andere wiederum erwartete die Fremde.
    Fräulein Romitschka hatte das Gefühl, jeder würde jeden suchen. Reisende irrten die Reihe der Waggons entlang, andere klopften von innen an die Scheiben, als wäre der Bahnhof ein Aquarium. Hände winkten unermüdlich. Fräulein Romitschka entdeckte in einem Abteil ein einsames Mädchen, das mit dem Finger ein Herz auf das trübe Glas des Zugfensters malte, so, als sei ihre Reise noch lange nicht zu Ende.
    Dichte Schwaden aus weißem Dampf vernebelten langsam von der Lok aus den Bahnsteig. Fräulein Romitschka verlor bei diesem Anblick all ihre Hoffnung. Wie sollte man in dem Durcheinander einen kleinen Jungen ausfindig machen, den man sage und schreibe drei Wochen nicht gesehen hatte? Ach, wäre doch nur Herr von
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