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Das Feuer von Konstantinopel

Das Feuer von Konstantinopel

Titel: Das Feuer von Konstantinopel
Autoren: Ingmar Gregorzewski
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einen klaren Gedanken fassen...?“
     
    In der Nacht lag Felix wach in seinem Bett. Er hatte nicht die geringste Lust einzuschlafen. Schon morgen früh sollte er im Zug sitzen. Das wollte ihm einfach nicht in den Kopf. Er konnte sich das nicht vorstellen.
    Es herrschte eine große Hitze in Konstantinopel. Selbst die weit geöffneten Fenster brachten kaum Kühle in den Raum. Der Lärm, der von der Gasse in den zweiten Stock hochstieg, war wie Musik für Felix. Das Klappern der Eselskarren, die Rufe der Wasserverkäufer, das Geschrei der Kinder, die längst noch nicht im Bett sein mussten – all das erfüllte sein einsames Schlafzimmer.
    ‚Nur noch eine Nacht’, dachte sich Felix und starrte an die Zimmerdecke, ‚...morgen ist das alles wieder vorbei.’ Dann würde wieder Ruhe herrschen, die träge Ruhe im geordneten Haus seiner Eltern.
    Jeden Tag hatte er seiner Schwester Fedora einen Brief mit Zaubertinte geschrieben. Über einer brennenden Kerze und mit Zitronensaft beträufelt, gab das Papier frei, wie sehr sich Felix in Konstantinopel geliebt fühlte, wie sehr ihn die Menschen hier mochten. Jeder Tag war ein neues Abenteuer, voller Überraschungen. Niemals wusste man bereits am Morgen, was der Tag so bringen würde. Hier begegneten einem schon die ersten Wunder, sobald man mit dem Aufgehen der Sonne aus dem Bett sprang. Alles war so anders hier, anders als in Berlin, fand Felix. Der Haushalt der Eltern war geregelt, still und ruhig, jeder Tag immer gleich, fast immer gleich. Niemals gab es Streit im Hause Flocke, nie waren sie böse zueinander, nie gerieten sie außer sich vor Wut, immer handelten sie besonnen und verständnisvoll. Eigentlich gab es nichts zu klagen, aber trotzdem...!
    Fräulein Romitschka bestand darauf, dass sich die Kleidung von Felix stets in einem tadellosen Zustand befand. Die Haare auf seinem Kopf hatten ihr zu gehorchen. Ohne Widerrede. Kamm und Bürste trug sie immer bei sich, sollte sich einmal ein einzelnes Haar erlauben, sich gegen sie zu erheben. Der Besitz eines sauberen, täglich frischen Taschentuches gehörte ebenfalls zu ihren Vorschriften. Dazu kam das Einüben von Tischsitten, einem Spezialgebiet von Fräulein Romitschka. Wehe, Felix saß nicht gerade, hielt Messer und Gabel nicht ordentlich oder lachte gar laut, den Mund oft noch voll.
    ‚Wozu das alles?’ fragte sich Felix.
    Die Uhr würde wieder sein Leben diktieren und es gab jede Menge Pflichten – alte und neue. Onkel Fidelius konnte den Lebensstil seines Bruders Fridolin gar nicht verstehen, er empfand ihn als viel zu bürgerlich. Das Leben von Fridolin schien aus seiner Sicht genauestens vorausberechnet zu sein, nichts Unvorhergesehenes durfte passieren.
    Felix seufzte. Wenn er groß war, wollte er für immer nach Konstantinopel, den Zauberladen von Onkel Fidelius übernehmen. Seine eigenen Kinder sollten lachen und glücklich sein, egal, was die Uhr sagte oder die Tischsitten im Sinn hatten, soviel stand für ihn fest.
    Langsam wurden Felix die Augenlider schwer. Der Schlaf rückte näher. Unten auf der Gasse war eine Sängerin stehen geblieben, dicht bei seinem Fenster. Er liebte dieses alte türkische Lied, das sie voll Inbrunst sang. Felix kannte den Text genau. Tante Fatima hatte ihn die Worte gelehrt. Die Frauen sangen es, wenn sie mit der Fähre den Bosporus überquerten, den Wind mit ihren bunten Tüchern spielen ließen und dabei Zigaretten rauchten.
    Felix kletterte aus dem Bett und lehnte sich aus dem Fenster. Er sah die Sängerin an der Straßenecke stehen. Auf ihrer Schulter hockte eine zahme schwarze Krähe, die den Kopf zur Melodie wiegte und Ausschau nach Münzen hielt, falls einer der Vorübergehenden ihr überhaupt etwas zuwarf.
    Wie feiner Rauch stieg der Gesang zu Felix hinauf, als wäre er nur für ihn bestimmt:
     
    „...ja morgen, ja morgen... die Zeit lässt dich ziehen... aber kehrst du zurück...? Öffne deine Hände, für den Wind aus Konstantinopel... morgen, ja morgen... nun umarme die Nacht.... denn du sollst die Wahrheit erfahren...!“
     
    Das Lied klang trauriger, als er es jemals gehört hatte. Kein Mensch blieb stehen, um der Sängerin eine Münze zu geben. Keiner beachtete sie, keiner hörte ihr zu. Niemand. Dabei wirkte sie so arm, als hätte sie nichts, außer ihrem Gesang und der Krähe.
    Felix sah, wie die Sängerin den Kopf hob, ihre leblosen Augen in seine Richtung gerichtet. Sie war an der Stelle des Liedes, an der es heißt: „...du sollst die Wahrheit
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