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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria
Autoren: Carmen Stephan
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Irgendwo schwirrte etwas, dann war es ruhig. Sie lag in Rio de Janeiro, im Viertel Olaria, in der Rua Catete, in der vor jedem Haus auf dem Fensterbrett eine Marienstatue steht, im Krankenhaus Salbino, im Zimmer Nr.  284 , in ihrem Bett. Der kleine Kopf im Kissen, auf das ein »S« gestickt war. Die Lider gelb. Im Hals alles still, alles tot. Nur das Blut rauschte und rauschte. Ständig lächelte sie. Die Kräfte, die sich im Schmerz entfalten, waren nun die einzigen, die den Körper noch zusammenhielten.
    Sie hatte an diesem Tag noch kein Piratenschiff gesehen. Weder Stimmen in ihrem Ohr, die sich in einer fremden Sprache etwas zuflüstern, noch das Schreien der Soldaten. Vielleicht war es ein besonderer Tag. Die Wand, der Fußboden, ihre Decke, alles beige, der Raum ohne Rahmen. Ob draußen die Welt noch vorhanden war, wusste sie nicht. Es ist nur ein Spaziergang und zurück, wie der Fuchs sagte.
Willst du mit mir kommen? Ich nehme dich auf meinem Rücken mit. Zu einem Spaziergang und zurück.
Fuchs, pass auf …
    Wo war er? Träumte sie? Sie träumte nicht, sie sah jedes Detail. Bis es verschwand. Das Gehirn schaute, nicht ihre Augen. Ein Herr Beobachter zeichnete alles auf. Über ihrem früheren Bewusstsein hatte er eine Stirnlampe angebracht, die auf alles sein Beobachterlicht warf. Wenn eine zweite Etage existierte, gab es auch eine dritte oder vierte? Die Wirklichkeit hatte auf einmal so viele Schichten. In losen dünnen Blättern lagen sie übereinander, und sie konnte jedes einzelne in die Hand nehmen und wenden. Wurde sie verrückt, verstand sie endlich? Am neunten Tag.
    Sie wusste nicht, wer die Dinge in ihr festlegte. Sie kannte den Namen ihrer Krankheit nicht. Sie hatte mindestens so viele Möglichkeiten wie das Orchester am Amazonas, das es vor langer Zeit gab und das jedes Jahr aufs Neue ausstarb. Wer es in seiner vollen Besetzung im Opernhaus erleben wollte, musste sich früh in der Saison um Karten bemühen. Bald schon fehlten die Violine oder das Cello, es folgten in unvorhersehbarer Reihenfolge die Klarinette, die Posaune, das Klavier, die Trompete. Schiefe Töne. Sekunden der Stille. Krankheiten, die man hören konnte. So ging es weiter, bis alle Töne fort waren. Im langsamen Abnehmen der Musik hatte das Orchester ein lange nachklingendes Bild für das Dahinschwinden des Lebens erschaffen. Das letzte Konzert, welches Instrument auch immer das letzte war, bestand nur noch aus einem dünnen Faden Melodie, den die Verzweiflung zusammenhielt. Weil gerade darin Schönheit lag, war es jedes Jahr ausverkauft.
    Die Musiker starben an Pocken, Malaria, Gelbfieber und anderen Tropenleiden, die sich zur Zeit des Kautschuks ausbreiteten. Manche dieser Krankheiten haben eine jahrtausendalte Geschichte, die in jedem neu erzählt wird, der sie bekommt.
    Meiner Patientin im Hospital Salbino erging es im Jahr 2004 nicht anders als manchem Musiker aus der Ära der Kautschukbarone. Sie war mit ihnen verbunden, wie sie mit mir verbunden war. Wir waren Blutsschwestern. Ihre Geschichte, die ich erzähle, ist so gewöhnlich und entsetzlich wie jede Geschichte, die vom Tod handelt. Es ist nicht so, dass viel passiert wäre, es ist vielmehr so, dass trotz aller Anstrengungen nichts passierte. Und doch warfen diese Tage ein Licht in manche schlecht ausgeleuchteten Winkel unseres Inneren.
    Man hätte sie längst retten können. Aber niemand sah, niemand verstand. Menschen, die nicht denken, sind überflüssig; sie sind gefährlich.
    Ich kannte den Namen ihrer Krankheit. Doch ich konnte ihn niemandem mitteilen. Ich habe keinen Mund. Stimmlos flüsterte ich ihr all das zu, was sie hören wollte. Die Geschichte, wie ich entdeckt wurde (die ihre Rettung sein könnte). Ob sie es hörte?

1 .Tag
    Der Augenblick, in dem Carmen krank wurde, gleicht einer Szene in einem alten Musicalfilm. Eine junge Frau läuft im Frühling durch eine Drehtür, sie kommt auf der anderen Seite wieder heraus, und es schneit. Es hatte sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt getroffen. Wobei man natürlich dazu neigt, im Nachhinein jeden Zeitpunkt als ungünstig zu interpretieren. Sie war siebenundzwanzig mit roten Wangen. Jetzt sehe ich sie wieder auf den Holzplanken über den Fluss ankommen. Lebhaft mit ihrem Freund redend, im schnellen Schritt. Im Vorbeigehen riss sie ein Blatt vom Baum, drückte es sorgsam in ihrer Hand. Warum war gerade sie es, die ich wählte?
    Ein Jahr lang hatte sie in einem Architekturbüro gearbeitet, ein Gebäude wie eine
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