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Das Feuer das am Nächsten liegt

Das Feuer das am Nächsten liegt

Titel: Das Feuer das am Nächsten liegt
Autoren: Cherry Wilder
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sich im Glauben, daß sie mir eine Freundlichkeit erwiesen. Ich räusperte mich und sprach zum ersten Mal in meinem Leben in der Öffentlichkeit.
    „Guter Bürger Oberwärter“, sagte ich laut genug, um auch auf dem Balkon gehört zu werden, „was geschieht, wenn ich diese Leibeigenschaft nicht eingehe?“
    Der Oberwärter war sprachlos und aufgebracht; Runenbänder klatschten auf den hohen Tisch.
    Dann sagte der Oberwärter: „Beim Feuer, Yolo Horn, wenn jemand so leichtfertig mit der Güte der Luntroys verfährt und mit dem guten Ruf von Tsagul, kann es ohne weiteres geschehen, daß er nach Itsik geschickt wird!“
    Itsik … ein dreckiger Ort im Südosten, wohin Gefangene zur Abbüßung ihrer Strafe geschickt werden. Die Arbeit ist schmutzig und knochenbrechend und der Gestank unerträglich; er setzt sich aus Fellen und Talg und Lohefässern und verfaulendem Fisch zusammen, aber das Schlimmste von allem ist der Gestank der Entehrung. Der ganze Saal, Gefangene, Vasallen, ja sogar die Granden, brach in nervöses Gelächter aus. Ich dachte an den Alten Horn und seinen verdammten Orden, und endlich wußte ich, was Freiheit hieß.
    „Wie Ihr entscheidet“, sagte ich entschlossen, „denn ich will kein Vasall sein. Ich nehme diese Amnestie nicht an!“
    Der Oberwärter strich meinen Namen auf dem Runenband mit einem schnellen Schnitt einer Messerklinge. Die Luntroys hatten einen Vasallen weniger; ein Glied wurde in die Kette geschmiedet; ein Backstein hielt die Mauer aufrecht; die Sterne drehten funkelnd ihre Bahn. Vierzehn Tage vor Neujahr wurde ich nach Itsik geschickt.

 
Itsik
     
1
     
    Die Wächter machten eine Pause an der Ecke der Mühlenstraße, um sich einen Imbiß zu genehmigen, und verteilten frisches Bohnenbrot und Leichtbier an ihre Gefangenen. Einige Kinder spielten noch und sangen den Kinderreim, an den ich mich erinnerte. Er gehörte zu dem langen Singspiel namens „Wahnsinnige Elbin“, das der verrückten alten Elbin Tsatroy galt. „Wohin gehst du, Wahnsinnige Elbin?“ fragt der Kinderreim, und die Antwort lautet „… zu den Bergen, nach Rintoul, zum Troon, zu den Salzsümpfen.“ Die Strophe, die mir am meisten gefiel, war die, die sie gerade sangen:
     
    „Ban ulrin, ban ulrin,
    Dan O dan, dandar …“
     
    „Auf zu den Inseln, auf zu den Inseln
    So grün, o so grün, so grün …“
     
    Als wir wieder abmarschierten, erklang der Refrain finster und höhnisch:
     
    „ To wel welangar,
    To tsa ulstarn …“
     
    „Jeder große Baum welkt dahin,
    Jedes Feuer erlischt …“
     
    Ich ging jetzt am Ende eines Seils hinter zwei älteren Gefangenen her, der eine hieß Die Rote, der andere Grapscher. Jeder Gefangene im Stadtgefängnis wählte oder bekam einen neuen Namen, einen gavje oder Unglücksnamen. Ich wurde Kitz genannt. Jeder wußte, was ich getan hatte … kannte mein Verbrechen und den Grund, warum ich ein halbes Jahr nach Itsik geschickt wurde. Ich hatte keine Ahnung, was Die Rote getan hatte; sie war eine große knochige Omor, und ich vermutete, daß sie wegen Diebstahls in den Werften im Gefängnis saß. Grapscher war ein kleines mißgestaltetes Geschöpf, und obwohl er jetzt geduldig und mit einem Grinsen auf seinem breiten Gesicht dahinstapfte, war es unverkennbar, daß er verrückt war. Immer wieder geriet er allmählich in Raserei und grapschte alles, was in seiner Reichweite war, besonders wenn es sich bewegte, und klammerte sich daran, bis jemand ihm kaltes Wasser ins Gesicht schüttete oder ihn zu Boden warf.
    Wir schlurften über die belebten Kais, und ein paar Stimmen riefen aus dem Schatten Der Roten Auf Wiedersehn zu. Mich kannte keiner, und ich war darüber froh. Morritt hatte mich voller Hoffnung und wieder lächelnd vor der Amnestie besucht. Sie arbeitete bei einer Familie außerhalb der Stadt, am Datse. Sie sagte mir, ich solle den Kopf hoch halten; die Zeit werde schneller vergehen, als ich dächte.
    Ich freute mich für sie, zumal sie zum Glück nichts von der neuen Entehrung wußte, die ich in das Runenband gewebt hatte.
    Wir wurden die Laufplanke eines großen flachen Schiffes hinaufgeführt und unter einer Plane auf dem Achterdeck untergebracht. Das Schiff war im Begriff auszulaufen; der Anker wurde hochgekurbelt, und die klammen schwarzen Segel waren schon gehißt. Die Wächter waren verschwunden. Der Kapitän hielt sich dem Häufchen Gefangener fern, aber als das Schiff durch den Hafen glitt, kam sogleich der Seilmeister oder Zweite Offizier mit zwei
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