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Das Feuer das am Nächsten liegt

Das Feuer das am Nächsten liegt

Titel: Das Feuer das am Nächsten liegt
Autoren: Cherry Wilder
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Matrosen nach achtern.
    Er musterte uns im Licht einer Laterne; er war ein junges, sehr großes männliches Wesen mit einem langen blutroten Haarzopf, der ihm auf dem Rücken über einen Segeltuchumhang hing. Er sah nicht unfreundlich aus.
    „Haltet euch gut fest, wenn Sturm aufkommt“, sagte er.
    „Sagt das, um des Feuers willen, nicht dem Grapscher“, sagte Die Rote heiser.
    „Oh, ist das der?“ fragte der Seilmeister.
    Grapscher stöhnte und rollte mit den Augen. Er war schon seekrank, obwohl das Schiff erst die Hälfte der Hafenbucht zurückgelegt hatte.
    Plötzlich stand ich auf. Ich wurde durch eine überwältigende Freude auf die Beine gezogen, die stärker war als alles andere. Ein flachshaariger Matrose an der Reling hatte den Kopf umgedreht, und ich sah, daß es Len war.
    „Len!“ rief ich. „Len Horn …“
    Ich bemerkte kaum, daß der Seilmeister und die anderen Gefangenen mich beobachteten; es war Len, mein lieber Verwandter, genauso wie ich ihn in meinen Träumen gesehen hatte. Ich weiß nicht und kümmerte mich auch nicht darum, wie ich in der grauen Gefangenenkleidung aussah, fast zur Unkenntlichkeit entstellt, denn ich war jetzt ebenso groß wie Len und muskulöser. Der flachshaarige Matrose trat auf mich zu und musterte mich im schwachen Licht, und ich sah, daß er mich erkannte. Er sagte nichts.
    „Ich bin Yolo …“ sagte ich, immer noch ganz erfüllt von meiner Entdeckung.
    „Ich bin Len Alroyan“, sagte der Matrose, „es gibt keinen Len Horn.“
    „Len … erkennst du mich?“
    „Mir ist nur bekannt, daß wir Gefangene nach Itsik bringen!“
    Er machte kehrt und ging fort.
    Ich setzte mich wieder hin, und der Schmerz, den ich empfand, war schlimmer als sonst irgend etwas in meinem Leben. Sogar das Grauen durch das, was ich Tenn dem Aufseher angetan hatte, mein Verbrechen, konnte sich nicht mit diesem fürchterlichen Kummer messen. Ich senkte den Kopf und spürte, daß mir Tränen über die Wangen rannen. Wenn ich nicht mit einem Seil angebunden gewesen wäre, hätte ich mich wohl ins Meer gestürzt und meinem elenden Leben ein Ende gemacht. Ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter und sah, daß es der Seilmeister war.
    „Ich glaube, du bist eine gute Matrosin“, sagte er, „und wenn Sturm aufkommt, kannst du dich an den Seilen betätigen.“
    Er versuchte, mich zu trösten. Es gelang mir, ihm zu antworten, und er ging mit der Laterne fort und ließ uns im Dunkeln, während eine frische Brise an der Plane zerrte.
    Wir segelten aus der Bucht von Tsagul heraus in einen anwachsenden Sturm. Das Salzschiff schlingerte in schwarzen Wogen, die über Deck spülten; Wolken verbargen die aufgehende Ferne Sonne. Ich vergaß alles außer dem Wind und den Wogen und ihren Kampf mit dem Schiff. Wir rückten, soweit es unsere Seile zuließen, zum Abfluß, damit der arme Grapscher sich übergeben konnte, und schon bald hatte er nichts mehr in sich drin. Er lag auf dem Deck und ächzte lauter als die Spanten des Schiffes.
    Die Muschel, die die Stunden zählte, konnte kaum noch gehört werden, aber ich schätzte, daß es ungefähr die erste Morgenstunde war, als der Seilmeister eine Matrosin zu mir schickte, die mich losband. Sie bot auch Der Roten an, mitzukommen, doch die war fast genauso seekrank wie Grapscher. Ich folgte der Matrosin zum Mitteldeck, wo ich ein abgerissenes ungerefftes Segel zusammenrollen sollte. Das tat ich auch zusammen mit anderen Matrosen, dann wurde ich an eine Seebremse, an eine Art Holzflosse gestellt, die wir anwinkelten, um die wilde Fahrt des Schiffes auf offener See zu hemmen.
    Es gelang mir, meiner Nachbarin zuzurufen: „Wo ist Itsik?“
    „Noch verflixt viele Meilen im Südosten!“ schrie sie. „Wir sind so weit vom Kurs abgekommen, daß wir zu den Inseln gelangen werden, wenn der Sturm sich nicht legt.“
    Wir rangen stundenlang mit der Seebremse und wurden aus einem ledernen Trinkbeutel mit dünner Maische gestärkt, der von Hand zu Hand wanderte. Dann ertönte ein Schrei, und wir suchten Deckung: ein Knarren zersplitternden Holzes erklang hoch über uns, und ein Stück des Fockmastes, groß wie ein junger Baum, krachte auf das Deck. Der Segelmeister und der Seilmeister stapften mit Äxten hin und hackten ihn los.
    Der Sturm ließ noch immer nicht nach, und wir segelten weiter, mit der Seebremse und dem Takel kämpfend, bis zu den Ohren von eiskaltem Wasser überspült und durch Wind und Regen taub. Endlich erschien ein Lichtstreifen im Osten, und der
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