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Ein Herzschlag bis zum Tod

Ein Herzschlag bis zum Tod

Titel: Ein Herzschlag bis zum Tod
Autoren: Sara J. Henry
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    Hätte ich geblinzelt, wäre es mir entgangen.
    So aber sah ich etwas vom Achterdeck der entgegenkommenden Fähre fallen. Es hätte irgendwelcher Müll sein können oder auch eine Puppe von der Größe eines Kindes. Beides wäre naheliegender gewesen als das, wofür ich es hielt: ein kleines menschliches Gesicht mit weit aufgerissenen Augen, das in einem winzigen, eingefrorenen Moment ins Wasser stürzte.
    Ich hatte die Spätnachmittagsfähre über den Lake Champlain genommen, die große, die eine Stunde bis nach Vermont braucht. Es war bedeckt und neblig, einer jener unentschlossenen Tage in den Adirondacks, in denen sich der Sommer noch nicht festlegen möchte, und ich hatte mir wegen der gelegentlichen kalten Böen eine Windjacke übergezogen. Ich war allein an Deck, der geschlossene Aufenthaltsraum mit den schmalen Bänken und der winzigen Snackbar machte mich immer nervös. Außerdem sah ich gerne zu, wie die Fähre das Wasser durchschnitt. Heute war es auf dem See ruhig, man sah keine anderen Boote außer dem Zwilling meiner Fähre, der behäbig in die Gegenrichtung tuckerte.
    Was dann folgte, war eine instinktive Reaktion auf die kleinen Augen, die ich zu sehen gemeint hatte. Ohne einen weiteren Gedanken kletterte ich auf die Reling, an die ich mich gerade noch gelehnt hatte, holte tief Luft und machte einen Kopfsprung in den See.
    Es ist erstaunlich, wozu man fähig ist, wenn man nicht lange nachdenkt. Das kalte Wasser schien mir die Luft aus den |10| Lungen zu saugen, doch ich trat instinktiv mit den Füßen und schwamm nach oben.
    Bei den wöchentlichen Mini-Triathlons, die in meinem Wohnort Lake Placid stattfinden, steige ich meist als eine der Letzten aus dem Wasser. Ich bin nur einmal richtig getaucht, als ich meine Haarspange im Swimmingpool einer Freundin verloren hatte. Selbst dafür brauchte ich zwei Versuche. Wenn ich einen Film sehe, in dem der Held durch eine lange, enge Röhre tauchen muss, halte ich probeweise auch die Luft an. Ich schaffe es nie.
    Doch meine Entscheidung war gefallen, ich war im See und kämpfte mich unter Wasser voran. Als ich wieder an die Oberfläche kam, hatte ich ein Drittel der Strecke bis zu der Stelle zurückgelegt, an der das Etwas ins Wasser gefallen war. Beide Fähren waren in entgegengesetzten Richtungen weitergefahren. Niemand war zu sehen. Keine Warnrufe von Deck, keine der Fähren stoppte oder startete ein Wendemanöver.
    Ich hielt die Augen auf das Wasser vor mir gerichtet. Ein Stück weiter tauchte plötzlich etwas auf, zu weit weg. Mein Magen drehte sich um. Dann schwamm ich los, kräftiger und schneller, als es mir je beim Mini-Triathlon gelungen war, wenn mir die Touristen mittleren Alters im Nacken saßen.
    Als ich die Stelle erreichte, holte ich tief Luft und tauchte. Das Wasser war nicht klar, aber auch nicht ganz trübe, alles sah grünlich verschwommen aus. Flache, farblose Fische schossen an mir vorbei, dann musste ich wieder hoch und Luft holen.
    Während ich keuchend Wasser trat, kehrte mein Verstand allmählich zurück. Mir war nicht nur kalt; mein Körper war fast taub. Ich befand mich allein in einem sehr tiefen, fast zwanzig Kilometer breiten See und tauchte nach etwas, das durchaus eine simple Mülltüte sein konnte. Ich war mir nicht sicher, ob ich es ans Ufer schaffen würde. Dennoch tauchte ich noch einmal, und diesmal fand ich es.
    Es war kein Müll. Auch keine Puppe. Es war ein kleiner Junge, |11| dessen Arme sich in einem dunklen Sweatshirt verfangen hatten und dessen glattes, dunkles Haar gespenstisch um seinen Kopf schwebte. Einen schrecklichen Moment lang glaubte ich, eine Leiche zu sehen, doch dann zuckte sein kleiner Fuß im Turnschuh. Als ich nahe genug war, um nach dem Sweatshirt zu greifen, drehte sich der Junge zu mir und schaute mich aus großen, dunklen Augen an. Die hatte ich mir also doch nicht eingebildet. Dann gingen sie langsam zu. Ich kämpfte mich nach oben und zog ihn mit einer Hand hinter mir her, während ich mit der anderen Schwimmbewegungen machte und so kräftig wie möglich mit den Füßen trat.
    Es dauerte eine Ewigkeit. Meine Ohren dröhnten, mein Körper war eine Marionette, die ich mit meiner inneren Stimme dirigierte:
Weiterschwimmen, weiterschwimmen, weiterschwimmen.
Mir war nicht mehr kalt, und meine Kehle hatte aufgehört zu zucken. Ich fragte mich, ob ich schon ertrunken war. Nein, ich spürte einen dumpfen Schmerz in dem Arm, mit dem ich den Jungen umklammert hielt.
    Ich strampelte weiter und
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