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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir
Autoren: Christa Bernuth
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kühl. Leander läuft vor mir, er dreht sich um, er lächelt mich an!
    Sie lieben ihn, sagt die Stimme, es ist keine Frage, es ist eine Feststellung, und ich weiß, sie hat recht, sie versteht mich so wie er, er ist mein Führer, er weiß, was ich fühle, er fühlt es auch, ich bin nicht mehr allein!
    Versuchen Sie, sich zu erinnern, sagt die Stimme, und einen Moment lang bin ich nicht mehr auf der Straße und bei Leander, sondern sitze auf einem Stuhl, zur totalen Bewegungslosigkeit verurteilt, bis mich die Stimme befreit, aber noch ist es nicht so weit, und schon führt sie mich wieder zurück in die Nacht, die Kälte, die Nässe, das überwältigende Glück.
    Ich sehe sie. Sie läuft vor uns, sie zieht ihr Handy heraus und tippt eine SMS , und dann höre ich ein Geräusch. Es ist Leanders Handy, sie hat ihm geschrieben, ohne zu wissen, dass er hinter ihr ist, und nun erinnere ich mich, dass ich sie auch im »Jensen« gesehen habe, sie war dort mit Freundinnen, ich erkennesie trotz der Kapuze sofort wieder. Sie ist wunderschön, mindestens so schön wie das Mädchen, das ich am frühen Abend verfolgt habe, sie ist ein würdiger Ersatz.
    Ich sehe ihre blasse Haut und stelle mir ihren weißen Leib vor.
    Wo geht sie hin, fragt die Stimme, ich sage, sie geht nach links, plötzlich hektisch, als wollte sie jemanden abschütteln. Die Straße heißt Haager Weg und sie ist ganz schmal, eine Einbahnstraße. Leander holt sie ein, legt ihr die Hand auf die Schulter, sie erschrickt, und dann sieht sie ihn an.
    Was machen Sie?
    Ich bleibe stehen, beobachte.
    Wo sind Sie?
    Ich bin immer noch im Haager Weg. Ich sehe einen Flachbau etwa fünfzig Meter entfernt, einige wenige junge Leute befinden sich davor und reden und lachen. Leander und das Mädchen schlendern Hand in Hand daran vorbei, dann biegen sie rechts ab.
    In welche Straße?
    Keine Straße.
    Keine Straße? Konzentrieren Sie sich. Die Stimme ist warm und drängend, ich möchte, dass die Stimme mich liebt, ich gebe mir Mühe, ich bin folgsam.
    Ich höre meine Schritte auf dem Asphalt, kleine Steinchen knirschen unter meinen Schuhen. Ich passiere den Flachbau mit den wenigen jungen Leuten im Lichtkegel, höre gedämpfte elektronische Musik aus dem Inneren des Flachbaus, sehe, dass mich niemand beachtet. Ich bin nun etwa zwanzig Meter von Leander und dem Mädchen entfernt. Sie verschwinden in einer Art Tunnel, nein, kein Tunnel, ein Hauseingang links neben dem Flachbau.
    Die Tür, ein verschrammtes altes Ding aus Glas und Metall, steht halb offen; Leander hat sie arretiert, damit sie nicht zufällt. Das hat er für mich getan. Ich liebe ihn dafür. Ich stehein einem Treppenhaus; die Treppe windet sich vier Stockwerke hoch. Die Deckenbeleuchtung ist an, flackerndes bläuliches Neonlicht, das in den Augen wehtut. Ich höre das Lachen des Mädchens über mir und laufe die Treppe hoch, dem Lachen hinterher.
    Was passiert dann?
    Ich stehe vor der Wohnungstür, sie ist graublau angestrichen.
    Steht sie offen?
    Sie ist angelehnt.
    Was tun Sie?
    Trauer überflutet mich, droht mich zu ertränken. Ich keuche, schluchze, hole tief Luft …
    Ich gehe hinein, die Wohnung ist ein grandioses Loft, sehr hoch und weit, ein Teil des Daches ist aus Glas, von oben schaut die Nacht herein. Sie sieht alles und verzeiht nichts.
    Das Mädchen liegt nackt auf einem samtroten Sofa mitten in dem riesigen Raum, ihre weiße Haut schimmert in der sanften Beleuchtung, die von mehreren Strahlern ausgeht, sie kichert seltsam, von hinten spüre ich Leander, er drückt mir ein Messer in die Hand und schiebt mich zu ihr hin, meine Hände zittern …
    Du darfst den ersten Stich führen, flüstert Leander, ich spüre seinen Atem an meinem Ohr wie eine Liebkosung, und ich knie vor ihr, bete sie an, ritze ihre göttlich schöne Haut, quer über den Bauch, wie der erste Pinselstrich eines Künstlers auf einer jungfräulich weißen Leinwand, Blut träufelt über ihren Bauch, ich höre ihren spitzen, entsetzten Schrei …
    Ich falle …
    Wo sind Sie jetzt?
    Nichts.
    Nichts?
    Ich bin … alles ist schwarz … Ich bin tot.
    Und dann?
    Ich wache auf, ich sitze auf einer Bank, ich weiß nicht, wo, es dämmert, ich fühle mich feucht und kalt, ich laufe durch die Straßen, schließlich finde ich mich wieder auf dem Lessingdamm. Es gibt nur mich, sonst niemanden …
    Und dann?
    Ich bin zu Hause.
    Im Bett. Ich schlafe, schlafe, schlafe …
    Sie wachen jetzt ganz allmählich auf, sagt die Stimme. Sie dehnen und strecken
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