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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan
Autoren: Patrick Graham
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sieht durch das Fenster ihres Hotelzimmers das erste Licht des Tages hereinsickern. Eine schwache Brise bewegt die Gardine. Rot blinkt eine Leuchtreklame in der Dämmerung auf: Das Hotel Sam Wong im Chinesenviertel von San Francisco. Maria atmet die Gerüche der Stadt in vollen Zügen ein. Das Licht des Tages verjagt ihren Albtraum. Mit dröhnendem Nebelhorn fährt ein Frachter unter der Golden-Gate-Brücke hindurch. Nach dem sechsten Klingeln nimmt Maria ab und meldet sich. Sie hört Carzos Stimme. »Haben Sie geschlafen?«
    »Und Sie?«
    »Ich brauche nicht viel Schlaf.«
    »Ich auch nicht.«
    Sie greift nach den Zigaretten auf ihrem Nachttisch.
    »Sind Sie noch da?«
    Sie nimmt einen tiefen Zug.
    »Ich erwarte Sie.«
    »Ich komme gleich.«
    Sie legt auf, drückt die Zigarette aus und geht ins Bad. Dort zieht sie das Nachthemd aus, stellt sich unter die Dusche und zittert, als der heiße Strahl ihre Haut trifft. Mit geschlossenen Augen sucht sie in ihren Erinnerungen. Das verdammte Schlafmittel …

3
    Im Vatikan
    Auf dem Petersplatz drängen sich weniger Menschen als bei der vorigen Papstwahl. Diesmal ist es nicht still. Man hört Gesang und Gebete. Manche machen Musik. Alle versuchen, das Vergangene zu vergessen – zu stark war die Bedrückung der letzten Wochen. Wenn man die Menschen fragte, was ihnen aus den trüben Tagen erinnerlich ist, würden die meisten von ihnen zweifellos antworten, dass es ihnen so vorkommt, als liege die Ermordung des Papstes Jahre zurück. Vom seither Geschehenen bewahren sie ausschließlich schwarzweiße Bilder in ihrer Erinnerung. Nichts ist farbig. Außerdem steht ihnen der schwarze Rauch vor Augen, der aus den Kellerfenstern der Basilika gedrungen ist, als das päpstliche Archiv brannte.
    Es hat die Mitarbeiter der Reinigungsfirmen große Mühe gekostet, die Dächer des Vatikans von ihrer Ascheschicht zu befreien. Mehrere Gebäude hat man in aller Eile frisch gestrichen, den Petersplatz mit roten und weißen Tüchern geschmückt, Gebetsabende und Festlichkeiten organisiert, um die Gläubigen wieder ihrer Kirche anzunähern, ihnen beim Vergessen zu helfen. Sonderbarerweise kann sich keiner von denen, die sich damals in der Basilika gedrängt hatten, an das Evangelium erinnern, das der aus dem Nichts aufgetauchte Mönch zum Altar getragen hatte. Auch hätte keiner von ihnen sagen können, was der Papst des Schwarzen Rauchs da vorgelesen hatte. Sie erinnerten sich undeutlich daran, dass es dabei um eine große Lüge gegangen und Christus nie von den Toten auferstanden sei. Das aber würde bald dem Vergessen anheimfallen. Es waren Worte ohne Sinn und ohne jeden Wahrheitsgehalt, und so hatte eine einzige Ansprache des Kardinals Mendoza genügt, sie aus dem Bewusstsein der Menschen zu tilgen.
    Nach und nach war alles wieder ins Lot gekommen. Zwei Wochen lang war in den Räumen des päpstlichen Palasts in zahlreichen Sitzungen das Konklave vorbereitet worden, das vor zwei Tagen begonnen hatte. Inzwischen hatten sechs Wahlgänge stattgefunden; alle ohne Ergebnis. Sechsmal war aus dem Schornstein der Sixtinischen Kapelle schwarzer Rauch zum Himmel gestiegen. Aber seit Mittag hörte man gerüchtweise, dass sich endlich eine Mehrheit abzeichne. Beim nächsten Wahlgang, der für den Abend angesetzt war, hatte sich die Menge erneut zum Gebet auf dem Petersplatz versammelt, von wo aus sich nach wie vor ein ganzer Wald von Kameras auf den Schornstein der Sixtinischen Kapelle richtete.
    ∗ ∗ ∗
    Gemurmel in der Menge. Arme recken sich, Tränen fließen. Die Kameras zoomen ganz nah an den Schornsteinkopf heran, aus dem dichter weißer Rauch quillt. Die Kommentatoren erklären, dass das Konklave damit beendet ist. Die Glocken läuten, und die Menge wendet sich dem Balkon zu, dessen Fenstertüren sich jeden Augenblick öffnen können. Sie haben alles vergessen, was war, denken nicht einmal mehr daran.

4
    Als Maria das Hotel Sam Wong verlässt, steigt ihr der Geruch nach Zitronenmelisse in die Nase, der in den Gassen des Chinesenviertels hängt. Trotz der frühen Stunde wimmelt es bereits von Menschen. Sie öffnen ihre Geschäfte und stellen ihre Waren auf dem Gehsteig aus. Maria überquert die California Street und bleibt vor einem stummen Zeitungsverkäufer stehen. In großen Buchstaben schreit die erste Seite von USA Today heraus:
    ∗ ∗ ∗
    ZAHLREICHE SELBSTMORDE
UND FESTNAHMEN IN FINANZKREISEN.
DAS GROSSREINEMACHEN GEHT WEITER.
    ∗ ∗ ∗
    Sie steckt eine Münze in den Schlitz,
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