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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan
Autoren: Patrick Graham
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knienden Kardinäle erfasst, deren Gesichter wie Wachsmasken dahinschmelzen. Purpurrote Stoffreste wirbeln durch die brennende Luft. Eine Hand ergreift Valentina am Arm. Sie hört Crossmans Stimme: »Um Gottes willen, wir müssen hier verschwinden, bevor uns das Feuer den Weg abschneidet.«
    »Die Kreuze der Seligpreisungen. Wir müssen sie retten!« Inzwischen springen die Flammen von einem Feuer zum anderen über. In kürzester Zeit wird der ganze Raum eine einzige Waberlohe sein. Es riecht nach verbranntem Fleisch. Valentina wirft einen letzten Blick in die Flammenhölle und glaubt inmitten der Berge von Handschriften und Pergamentrollen fünf gekrümmte Gestalten zu erkennen. Dann zieht Crossman sie mit aller Kraft davon. Sie lässt es geschehen.

40
    Sirenen heulen. Feuerwehrfahrzeuge bahnen sich mit Mühe einen Weg durch die verstopften Straßen und über die Brücken der Stadt. Niemand weiß, was geschehen ist.
    Auf dem Petersplatz nehmen die Kameras der CBS und der RAI alles auf, was geschieht. Die Polizei bildet einen dichten Kordon um den Vatikan. Eine schwarze Rauchwolke dringt aus den Kellerfenstern der Basilika und des Archivgebäudes. Die Kommentatoren erklären, dass im Untergeschoss wohl ein gewaltiger Brand ausgebrochen sei, der sich durch die Gänge unterhalb des Petersplatzes ausbreite. Das Archiv des Kirchenstaates brennt. Zweitausend Jahre Geschichte gehen in Rauch auf, und ein Ascheregen senkt sich auf die Kuppeln des Vatikans. Schwarzer Rauch verdunkelt die Sonne. Man könnte glauben, dass die Nacht heraufzieht.
    Feuerwehrfahrzeuge fahren vor, Schläuche werden entrollt, und Feuerwehrleute dringen mit Atemschutzgeräten zum Brandherd vor. Über all dem fällt keinem Kameramann auf, dass Schweizergardisten über den Wehrgang zwischen dem päpstlichen Palast und der Engelsburg dahinziehen. Über diesen Weg, der oberhalb der Menschenmenge achthundert Meter geradeaus der Linienführung der Via del Corridori folgt, haben frühere Nachfolger Petri Zuflucht in der inzwischen als ›Engelsburg‹ bezeichneten Hadriansfestung gesucht, wenn Feinde den Vatikan bedrohten. Zwar ist der Weg seit Jahrhunderten nicht benutzt worden, doch haben alle Päpste vorsichtshalber dafür gesorgt, dass man ihn jederzeit instand hielt. In der Mitte der Gruppe von Gardisten befinden sich die Kardinäle Mendoza und Giovanni. Mendoza geht auf seinen Stock gestützt, Giovanni trägt das Satansevangelium, das er in ein dickes rotes Tuch eingeschlagen hat.

41
    Ein Hubschrauber des italienischen Heeres fliegt Richtung Norden. Crossman und Valentina sitzen hinter dem Piloten und folgen mit den Augen dem Verlauf des Tiber, der sich durch die Täler Umbriens schlängelt. Perugia liegt hinter ihnen, jetzt geht es den Apenninen entgegen, deren Vorberge in der Ferne sichtbar werden. Crossman schließt die Augen. Er denkt an Maria Parks. Er nimmt es sich übel, dass er sie zu der Unternehmung überredet hat. Ihm war von vornherein klar, dass sie ihren Auftrag bis zum bitteren Ende ausführen würde, und er hatte gewusst, dass sie die Fähigkeit besaß, nicht nur Tote zu sehen, sondern sich sogar an die Stelle von Opfern zu versetzen, deren Fall sie untersuchte. Vermutlich hatte die Entdeckung des Evangeliums sie das Leben gekostet. All das wegen ihrer verdammten Gabe. Eine Möglichkeit, die Crossman geflissentlich aus seinen Überlegungen herausgehalten hatte.
    In den sechs Jahren ihrer Zusammenarbeit hatten sie nur ein einziges Mal über ihre Gabe gesprochen, und das nur im Flüsterton, damit niemand etwas davon hörte. Bei einem Galadiner im Weißen Haus hatte Crossman, der etwas zu viel getrunken hatte, Maria in neckendem Ton gefragt, ob sie Tote in den riesigen Räumen sehe, in denen die Spitzen der Washingtoner Gesellschaft sündhaft teuren Champagner tranken. Sie war zusammengefahren.
    »Wie bitte?«
    »Tote, Maria. Sie wissen schon. Die Generäle des amerikanischen Bürgerkriegs – Sherman, Grant oder Sheridan. Oder den guten alten Lincoln. Besser noch, den käuflichen Hoover. Man weiß nie, vielleicht steht er ja mit seinen Gamaschen da in der Ecke.«
    »Sie haben getrunken, Stuart.«
    »Klar hab ich getrunken. Also, sehen Sie Tote zwischen all diesen Idioten hier?«
    Sie hatte genickt. Zuerst hatte er angenommen, sie scherze, dann aber hatte er den traurigen Blick in ihren Augen gesehen.
    »Heute Abend ist es nur einer. Eine Frau.«
    Crossman hatte versucht weiterzuscherzen, obwohl ihm eigentlich nicht mehr danach zumute
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