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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen
Autoren: Edwin Klein
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nicht mehr viel an Kraft abverlangen. Angenehmes kostete keine Kraft, im Gegenteil. Man schöpfte welche daraus.
    Sie setzten sich auf einen Holzsteg, tranken und aßen und scherzten und machten sich über andere Urlauber lustig. Besonders übergewichtige und untrainierte, die plattfüßig und schnaufend durch den tiefen, fließenden Sand watschelten, um sich endlich erschöpft auf der Terrasse in einen Plastiksessel fallen zu lassen, den Schweiß von der Stirn zu wischen und ein großes Bier zu bestellen.
    »Willst du wissen, wie die Geschichte meiner Heldin weitergeht?«
    »Aber ja doch. Ich bin ungemein gespannt.« Sarah leckte sich die fettigen Finger ab. »Hier, nimm doch etwas Mayo.«
    »Um Himmels Willen keine Mayo.«
    Carmen lehnte sich mit dem Rücken an die Holzwand der Imbissbude. »Meine Heldin kennt ihren Peiniger genau. Über Jahre hat sie ihn studiert. Jeder würde meinen, sie hätte doch schon längst aus der Eheklammer fliehen sollen. Aber sie blieb. Sie blieb aus Berechnung. Und ihr Peiniger denkt, seine Frau sei tot, in Frankreich verbrannt. Und wir denken, nachdem wir sie gefunden haben, er hat sie seit Wochen im Weinkeller eingesperrt. Das noch mal zur Verdeutlichung. Zuerst geht meine Heldin also hin und zerstört seinen schönen Ordnungsrahmen. Ein Rahmen, der auch Henry in Ordnung hält. Ein Gerüst, in dem er sich wohl fühlt. Weil alles an seinem Platz ist. Übrigens, Sarah, genau so hat uns Ludevik deinen Henry geschildert. Als einen Mann, der Angst hat, übermäßige Angst hat und unsicher ist. Mit Hilfe der Ordnung und seinen eigenen Regularien überwindet er diese Angst. Und meine Heldin geht nun hin und zerstört diese Ordnung.«
    »Wie macht sie das?«
    »Sarah, da gibt es viele Möglichkeiten. So genau weiß ich das nicht. Zuerst einmal verunsichert sie ihn, weil die Dinge nicht mehr an ihrem angestammten Platz liegen. Wie es Henrys Natur entspricht, macht er zuerst einmal alle anderen dafür verantwortlich. Er macht ja keine Fehler. Aber dann merkt Henry, dass nur er allein die verhasste Unordnung geschaffen haben kann. Genau das gibt ihm zu denken. Er grübelt und zweifelt und er stellt sich selbst auf die Probe. Henry, kein Kostverächter, was Alkohol anbelangt, beginnt immer häufiger zu trinken. Besser gesagt, er besäuft sich regelmäßig und hat anschließend so seltsame Träume. Henry hört im Traum Stimmen.«
    »Das passiert mir auch«, scherzte Sarah. »Ich höre auch Stimmen. Und manchmal laufe ich vor den Stimmen davon.«
    »Nun, Henry weiß anfangs nicht, ob er träumt oder alles wirklich erlebt. Für ihn wird es mit der Zeit jedoch zur Gewissheit, er erlebt es wirklich. Für seine Umwelt wird Henry dadurch mehr und mehr unverständlich, verschroben, unberechenbar. Seine Reaktionen widersprechen seinem bisherigen Verhalten total. Alle schütteln über Henry den Kopf. Als hätte er irgend eine Macke.«
    »Und wodurch ist alles ausgelöst worden? Etwa durch die angeblichen Träume?«
    Carmen verneinte. »Durch Angst, meint Ludevik. Die alte Angst brach durch, Henrys Angst aus der Kindheit. Über Jahre hat er sie im Zaum gehalten, konnte sie und sich in seiner Ordnung verstecken, die ihm den entsprechenden Halt gab. Wir haben doch die Tonbänder gehört. Du und ich. Henry hat immer nur gesprochen, wie ein Wasserfall gesprochen, um sich die Angst von der Seele zu reden, sich all das von der Seele zu reden, was ihn so lange belastet hat. Hattest du nicht auch das Gefühl, dass er am Ende irgendwie erleichtert war?«
    Sarah zögerte mit der Antwort. »Ja, jetzt wo du es sagst, kommt es mir auch so vor. Nun hat er keine Verantwortung und deshalb auch keine Angst mehr, oder?«
    »Angst wird Henry immer haben«, widersprach Carmen. »Wenn überhaupt, dann schlummert sie für eine Weile, um zu gegebener Zeit erneut aufzutauchen. Wieder zurück zu meiner Heldin. Sie hat ihn also zuerst verunsichert. Ungemein verunsichert. Hat Henry dich nicht auch mal in den Weinkeller gesperrt? Ich meine, bevor der letzte Akt begonnen hat?«
    »Das habe ich dir doch erzählt.«
    »Ludevik hat es unabhängig von uns auch herausgefunden. Henry hat ihm einmal den Weinkeller gezeigt und er entdeckte ein Stück von einem Taschentuch. Ein Stück von deinem Taschentuch, Sarah. Und nun findet ausgerechnet Henry sich in diesem Weinkeller wieder. Eingesperrt. Allein. Die Angst wird sein Partner. Zuerst denkt er, er träumt, wenig später wird er vielleicht unsicher, wer weiß? Und eine Engelstimme spricht zu
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