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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen
Autoren: Edwin Klein
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jünger als zweiundfünfzig aussah. Höchstens Anfang vierzig würde man ihr geben, wegen des Kostüms, das ihre schlanke Figur betonte, der Stöckelschuhe und der Art, wie sie sich zurechtgemacht hatte und lässig mit verschränkten Armen an einem Sportwagen lehnte. Vielleicht hätte sich Sarah weniger Gedanken gemacht, wenn es da nicht diese ungewöhnliche Ähnlichkeit zwischen Walli, dem Kindermädchen und der neuen, wieder aufgeblühten Mary gegeben hätte. Eine Ähnlichkeit, viel mehr als Mutter und Tochter. So wie unter Zwillingen, oder …
    Wie gesagt, diese Kleinigkeit bereitete ihr Kopfzerbrechen. Wer hatte Schraubenzieher und Salzsäure vor einer Woche auf den Küchentisch gestellt und die Fotos dazu gelegt, während sie für eine halbe Stunde ins Gästehaus schwimmen gegangen war? Alles, ohne dass die Hunde anschlugen, auf den Küchentisch stellen können? Mary, die Haushälterin? Wohl kaum. Der Weinkeller – und damit der Schraubenzieher – war für sie immer noch tabu. Außerdem hatte sie an diesem Tag frei und war zu einer Freundin gefahren. Sarah hatte selbst die Vorwahl von Trier gewählt, mit ihr am Telefon gesprochen.
    Carmen kam auch nicht in Betracht. Sie war im Dienst gewesen. Auch das hatte sie überprüft.
    Aber sonst kam niemand in Frage. Höchstens noch Ludevik. Aber der befand sich in Urlaub. Und Breuer war zwischenzeitlich zum Polizeirat befördert und nach Trier versetzt worden. Ruhiger Innendienst mit nahtlosem Übergang zur automatischen Frühpensionierung.
    Also doch nur Mary …, nein, Mary nicht. Nur … Carmen. Und …, ja, und Henry. Aber Henry lebte in der Anstalt. Für immer in der Anstalt. Sie besuchte ihn schon seit fast einem halben Jahr zweimal im Monat. Henry war nicht mehr Henry. Er wandelte in einer anderen Welt. Und bekam regelmäßig Besuch. Nicht nur von ihr, sondern auch von einer anderen Frau, wie man Sarah sagte. Gepflegte Erscheinung, wohl doch etwas älter als sie soll sie sein, aber ohne Brille. Wahrscheinlich eine Psychologin, wie Sarah vermutete. Mit beruflichem Interesse an Henrys Innenleben. Oder … Egal, damit wollte sie sich nicht länger beschäftigen. Auch wenn sich diese Frau immer mit dem Namen von Rönstedt anmeldete. Aber Henry hatte keine Schwester und war nur einmal verheiratet gewesen. War immer noch verheiratet, mit ihr. Und nahe Verwandte gab es auch nicht.
    Schon wieder dieser Traum. Sie fand sich im Weinkeller. Die Tür verschlossen. Aber nichts einfacher als das, da gab es ja den Schraubenzieher. Und die Schrauben ließen sich leicht heraus drehen. Kein Rost, nichts. Und nun stand sie in der Diele vor der Anrichte mit dem Telefon. Daneben lagen die drei Fotos. Sarah betrachtete sich die Rückseiten. Auf der des ersten Bildes stand Walli Nathem. Auf der des zweiten Mary Oberhausen. Und auf der des dritten Maria Walburga von Rönstedt, geschiedene Oberhausen, geborene Nathem. Gebannt und zugleich fasziniert starrte sie auf das dritte Bild. Henrys Vater hatte keinen Bruder, überlegte sie. Gab es da einen entfernten Vetter oder Verwandten, von dem sie nichts wusste, mit dem das Kindermädchen Walli verheiratet gewesen war? Eine andere Möglichkeit gab es für Sarah nicht. Oder doch? Nein … unmöglich … Aber war Henry nicht zu Beginn seiner Studentenzeit mehrere Monate im Ausland gewesen? Hatte nicht auf die vielen Briefe und Telefonate seiner Eltern reagiert?
    Sarahs Augen lösten sich von der dritten Fotografie. Nun starrte sie auf das Telefon. Wer kann mir helfen, überlegte sie. Wen kann ich um Auskunft fragen. Aber bevor sie wählen konnte, schlug es an. Sie kannte den Ton. So schlug es immer an, wenn man vom Gästehaus anrief. Sarah hob den Hörer ab. Eine Männerstimme. Und leiser im Hintergrund die einer Frau. Der Mann sagte etwas. Es war Henry, ohne Zweifel Henry. Und Sarah hörte die Frau kichern. Sarah erschrak und ließ den Schraubenzieher fallen. Und dann sagte sie sich: alles nur ein Traum. Alles nur ein Traum. Sie schaute auf ihren Fuß. Zwischen den Zehen steckte der Schraubenzieher im dünnen Fleisch. Es blutete. Und nun verspürte sie auch den rasenden Schmerz. Aber im Traum spürt man doch …
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