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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie
Autoren: W Gibson
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ERSTER TEIL
    Chiba City Blues

1
    Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.
    »Ich bin ja kein User«, hörte Case jemanden sagen, als er sich durch die Menge an der Tür des Chat drängte. »Mein Körper leidet neuerdings einfach unter Drogenmangel.« Es war eine Sprawlstimme und ein Sprawlspruch. Das Chatsubo war eine Bar für Berufsexilanten; man konnte dort eine Woche bechern, ohne ein Wort japanisch zu hören.
    Ratz schmiss die Bar. Seine Armprothese zuckte monoton, als er einen Schwung Gläser mit Kirin vom Fass füllte. Er sah Case und lächelte. Sein Gebiss war ein Flickwerk aus osteuropäischem Stahl und brauner Fäulnis. Case fand einen Platz an der Theke zwischen der unnatürlichen Bräune einer Hure von Lonny Zone und der steifen Marineuniform eines großen Afrikaners, dessen Wangen von präzisen Reihen wulstiger Stammesnarben gezeichnet waren. »Wage war schon da, mit zwei Mackern«, sagte Ratz und schob Case mit seiner unversehrten Hand ein Bierglas über den Tresen. »Geschäfte, ihr beide, Case?«
    Case zuckte mit den Achseln. Das Mädchen zu seiner Rechten stupste ihn kichernd an.
    Das Lächeln des Barmanns wurde breiter. Seine Hässlichkeit war legendär – im Zeitalter käuflicher Schönheit hatte sein Mangel daran Signalwirkung. Der altertümliche Arm surrte,
als er nach einem anderen Glas griff. Es war eine russische Militärprothese, ein Greifer mit sieben Funktionen, rückkopplungsgesteuert und eingegossen in schmuddeliges, pinkfarbenes Plastik. »Spielst den Künstler, Monsieur Case.« Ratz grunzte, ein Geräusch, das bei ihm als Lachen fungierte. Er kratzte sich mit der pinkfarbenen Klaue den in ein weißes Hemd gezwängten, überhängenden Bauch. »Jonglierst mit irgendwelchen komischen Deals.«
    »Klar«, sagte Case und trank einen Schluck Bier. »Einer muss hier ja komisch sein. Du bist’s jedenfalls nicht, verdammte Scheiße.«
    Das Kichern der Hure stieg um eine Oktave.
    »Und du auch nicht, Schwester. Also zieh Leine, okay? Zone ist’n persönlicher Freund von mir.«
    Sie sah Case in die Augen und gab den allerleisesten Spucklaut von sich, ohne die Lippen groß zu bewegen. Aber sie ging.
    »Mann, was ist das denn für’n mieses Loch?«, sagte Case. »Hier kann man ja nicht mal in Ruhe einen trinken.«
    »Ha!« Ratz fuhr mit einem Lappen über das abgescheuerte Holz. »Zone kommt wenigstens mit Prozenten rüber. Der einzige Grund, warum du hier arbeiten darfst, ist dein Unterhaltungswert.«
    Als Case nach seinem Bierglas griff, senkte sich einer jener seltsamen Momente der Stille auf den Laden, als wären hundert eigenständige Gespräche gleichzeitig bei einer Pause angelangt. Dann ertönte das schrille Kichern der Hure, durchsetzt von einer gewissen Hysterie.
    »Da ist gerade ein Engel durch«, brummte Ratz.
    »Die Chinesen«, grölte ein betrunkener Australier, »die Chinesen haben das verdammte Nervenspleißen erfunden. Wenn’s die Nerven sind, würd ich aufs Festland gehen. Die kriegen dich wieder hin, Kamerad …«

    »Ach was«, sagte Case zu seinem Glas, und seine ganze Verbitterung stieg wie Galle in ihm auf, »das ist doch totaler Schwachsinn.«
     
    Die Japaner hatten schon mehr Neurochirurgie vergessen, als die Chinesen je beherrscht hatten. Die schwarzen Kliniken von Chiba waren führend auf dem Gebiet; dort wurden ganze Operationstechniken von einem Monat auf den anderen durch neue ersetzt. Trotzdem schafften sie es nicht, den Schaden zu beheben, den Case in einem Hotel in Memphis abbekommen hatte.
    Nach einem Jahr hier träumte er immer noch vom Cyberspace, doch seine Hoffnung schwand mit jeder Nacht. Alles Speed, das er nahm, alle Streifzüge durch die Gassen und Winkel von Night City halfen nichts; immer noch sah er im Schlaf die Matrix, helle Gitter der Logik, die sich vor der farblosen Leere entfalteten … Das Sprawl lag jetzt in seltsam weiter Ferne jenseits des Pazifik, und er war kein Konsolenfreak, kein Cyberspace-Cowboy mehr. Nur ein kleiner Gauner unter vielen, der sich durchzuschlagen versuchte. Doch in der japanischen Nacht brachen die Träume über ihn herein wie Hochspannungsvoodoo, und dann weinte er, er weinte im Schlaf und wachte allein im Dunkel seiner Kapsel in irgendeinem Sarghotel auf, die Hände in die Matratze gekrallt, Temperschaum zwischen den Fingern, die nach der Konsole zu greifen versuchten, die nicht da war.
     
    »Hab gestern Abend dein Mädchen gesehn«, sagte Ratz, als er
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