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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver
Autoren: Robert Löhr
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in den Sattel. Die anderen folgten seinem Beispiel. Die Fackel zog Bettine aus dem Astloch und grub sie in die Erde ein, bis sie erlosch. Erst jetzt sahen sie, dass der Himmel jenseits des Laubdaches bereits frei von Sternen war. Es war nicht mehr Nacht und noch nicht Morgen. Goethe führte den Weg voran zur Poststraße zurück, und hier nahm Bettine von ihnen Abschied. Kleist versprach sie, ihm für immer eine Schwester zu sein, und Goethe, ihm zu schreiben, sobald sie zurück in der Sandgasse war. Als Goethe »Adieu, Mignon« sagte, erwiderte sie nur: »Bettine.« Dies war ihr letztes Wort. Sie kehrte ihr Pferd gen Westen und ritt davon.
    »Warum sind Sie eigentlich gekommen, um mir zu helfen?«, fragte Goethe, als der Hufschlag von Bettines Ross verklungen war. »Ich dachte, ich hätte eine Wurst zum Herzen und Sie hassten mich? Zumindest war das das Letzte, was ich von Ihnen hörte, Flüche, die manch einem Kesselflicker die Schamesröte ins Antlitz getrieben hätten.«
    Kleist schmunzelte freudlos. »Ich ändere meine Ansichten mitunter«, erklärte er. »Wissen Sie, in mir ist eigentlich nichts beständig – als die Unbeständigkeit.« Er griff in seine Weste und zog das halbverbrannte Manuskript Schillers hervor, um es Goethe zu übergeben: »Was ich davon retten konnte. Ich bedauere sehr, nicht schneller gewesen zu sein.«
    Goethe nahm die Blätter an sich und verstaute sie mit großer Sorgfalt in seiner Satteltasche. Als er sich die Asche von den Händen strich, war ihm, als wäre es die Asche seines Freundes. Dann brachen auch sie im langsamen Schritt auf.
    »Wohin führt Sie der Weg, Herr von Kleist?«
    »Von Weimar weiter nach Berlin und an die Oder und von dort schließlich nach Königsberg.«
    »Traun! Was erwartet Sie dort?«
    »Ich gehe zurück zur preußischen Armee. Man hat mir eine Stelle als Diätarius an der Domänenkammer angeboten.«
    »Aber Sie sind Dichter.«
    »Ich sagte doch: In mir ist nichts beständig. Vielleicht ist meine Zeit als Dichter noch nicht gekommen.«
    »Wissen Sie, wie einem, wenn man reitet oder auf Wanderschaft ist, Gedanken anhängen, auf denen man über Stunden herumkaut wie auf einem Stück Tobaks und die man nicht loszuwerden vermag?«
    »Natürlich.«
    »So dachte ich auf dem Ritt hierher über ihre Ge richtskomödie nach.«
    »Ach?«
    »Aber ja. Ihr Krug hat ein Tempo, einen Witz und ein wunderbares Gemisch von grillenhaften Figuren, außerordentliche Verdienste, die mir beim zweiten Blick sehr gefallen haben. Es mag Sie überraschen, aber ich trage mich mit dem Gedanken, ihn am Weimarer Theater zu geben; in der Tat, ihn höchstselbst in Szene zu setzen.«
    »Sie scherzen.«
    »Mitnichten. Und ich wünsche es nicht etwa, weil ich Ihnen Geld schulde oder mehrfach mein Leben verdanke, sondern weil ich denke, dass es ein hübscher kleiner Erfolg werden könnte.«
    »Sie wollen allen Ernstes diese heruntergehustete Komödie inszenieren?«
    »Ei, wer wird denn plötzlich so bescheiden sein? Was sagte noch Wieland, den Sie immer so fleißig zitieren?«
    Kleist erwiderte leise: »Dass von mir in der dramatischen Kunst Größeres zu erwarten sei, als je zuvor in Deutschland gesehen wurde.«
    »Et voilà.«
    Dieweil nun Kleist das Angebot Goethes überdachte, wandte dieser seinen Blick nach Osten, wo sich hinter den Hügeln der Morgen näherte. Eine einsame Wolke hoch über ihnen wurde bereits von den ersten Sonnenstrahlen erfasst und hing wie das Goldene Vlies am Himmel. Vor ihnen lag Hildburghausen. Goethes Nieren schmerzten und der offene Schnitt an der Seite und sein Kiefer und das ganze Gesicht, aber vornehmlich galt es, seinem leeren Magen Linderung zu verschaffen.
    »Könnte ich Sie vielleicht für ein Frühstück interessieren?«, fragte er seinen jungen Gefährten. »Bis wir in der Stadt angekommen sind, müsste eines der Gasthäuser geöffnet haben, und ich für meinen Teil verspüre einen rechtschaffenen Appetit.«
    »Hol’s der Teufel«, erwiderte Heinrich von Kleist, den er somit aus seinen Gedanken gerissen hatte, »ich ließe mich sogar sehr dafür interessieren.« Der Preuße schnalz te mit der Zunge und trieb sein Pferd in den Galopp, und voller Übermut rief er über seine Schulter: »Der letzte am Tisch zahlt die Zeche!«
    Auch Goethe packte nun die Zügel und stieß seinem Ross in die Flanken, dass es sich wiehernd aufbäumte, und lachend folgte er dem anderen auf einem atemlosen Ritt hinab ins Werratal: »Heinrich, Heinrich!«
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