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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver
Autoren: Robert Löhr
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mir etwas ins Auge gekommen«, erklärte Kleist. »Der Graf zog mit blutigem Schädel heim. Die Papiere aber blieben hier.« Und mit Blick auf den Ingolstädter, der als Einziger noch nicht seine Strafe erhalten hatte, fügte er hinzu: »So nimm denn, Gerechtigkeit, deinen Lauf. Hund, jetzo stirbst du.«
    »Oh, er wird mich nicht töten«, erwiderte Santing see lenruhig. »Mir den Prozess machen, ja, aber einem wehrlosen Mann zu seinen Füßen die Gurgel durchtrennen – nein.«
    Goethe schwieg. Auf den Treppen über ihnen waren schnelle Schritte zu hören, denn endlich hatte auch Humboldt vom Dach gefunden, und mit der Pistole im Anschlag kam er zu ihnen herab. Er verlangsamte seine Schritte, als er auf dem letzten Treppenabsatz angekommen war und seine drei Gefährten sah, den knienden Santing in ihrer Mitte. Auch Humboldt trug Schwarz, aber etwas noch Dunkleres umwölkte seine Züge.
    »Ich freue mich«, sagte Goethe, der seinen Gefährten zuletzt gefesselt und geknebelt in den Händen des Feindes gesehen hatte.
    Santing drehte sich feixend zu Humboldt und sagte: »Auch ich freue mich« – worauf Humboldt die letzten Stufen hinabstieg, seine Pistole hob, abdrückte und Santing aus nächster Nähe in den Kopf schoss. Die Kugel durchschlug Santings Stirn und blieb im Hirn stecken. Goethe war so perplex, dass er nicht einmal den Säbel entfernte, sodass der Tote an diesem seitwärts niederglitt und sich an der Klinge blutig ritzte. Rücklings blieb er auf den Fliesen liegen; das eine Auge, aus dem noch immer das Erstaunen sprach, weit geöffnet. Hier wandte sich Goethe mit Grausen. Den blutigen Säbel ließ er zu Boden fallen. Bettine hielt sich mit den Fingern die Ohren zu, obwohl der Schuss längst verhallt war. Kleist schnappte nach Worten wie ein gestrandeter Fisch nach Wasser.
    »Blitzverflucht! Alexander!«, wetterte er schließlich, »was hast du getan?«
    »Tat ich nicht, was wir uns alle lange wünschten?«, antwortete dieser befremdlich laut. »Eine Laus, nachdem sie uns wieder und wieder stach, endlich zu zerdrücken!«
    Goethe war neben dem Toten in die Knie gegangen. »Seht, wie ein Wüterich verscheidet«, murmelte er und schloss nun auch das zweite Auge des Ingolstädters zum letzten Mal.
    Bettine nahm endlich die Hände von den Ohren. »Was nun?«
    »Wir haben alles, brauchen nichts. Brechen wir auf.«
    »Sollen wir nicht zum Lebewohl das Schloss an allen Ecken anzünden?«
    »Nein, Herr von Kleist. Bitte kein Feuer, kein Blut mehr. Ich bin des Treibens müde.«
    Als sie auf die Freitreppe vor dem Herrensitz kamen, hörten sie Hufgeklapper. Graf de Versay war zurückgekehrt und hatte ein ungesatteltes Pferd bestiegen, auf dem er nun über die Allee davonritt. Vor seinem Schoß lag, quer über den Rücken des Pferdes wie eine geraubte Braut, die ohnmächtige Madame Botta. Keiner der vier machte Anstalten, den beiden Royalisten zu folgen. Statt dessen verließen auch sie den Hof. Kleist, der weder ver nünftig laufen noch schauen konnte, wurde von Humboldt gestützt. Bettine und Goethe hatten Fackeln genommen, um den Weg zu weisen.
    Als die vier im Wald verschwunden waren und sich wieder Stille über das Eishausener Schloss senkte, kam die trächtige Katze des Hauses aus einem Gebüsch hervorgekrochen und pflückte de Versays Perücke aus dem Spalier, um sie in ein behagliches Nest für ihre Jungen umzuwandeln.

    Auf dem Weg zu den Pferden erklärte Bettine die Umstände der unerwarteten und zeitigen Rettung Goethes. Bettine hatte den April, wie es Goethe vorgeschlagen hatte, bei Wieland in Oßmannstedt verbracht und sich, als der Mai kam, bereits mit dem Gedanken getragen, nach Frankfurt heimzukehren – als sie und Wieland die Kunde vom Tod Schillers erreicht hatte, am Tage der Beerdigung. Sie waren also in Trauerkleidern nach Wei mar aufgebrochen, um bei der Beisetzung zugegen zu sein. In der Nacht waren sie am Mausoleum des Jakobskirchho fes auf Humboldt und Kleist getroffen, die gemeinsam nach Weimar gekommen – dieser, um mit Goethe zu sprechen; jener, um von ihm die versprochenen 150 Taler einzufordern – und ebenfalls von der tragischen Nachricht überrascht worden waren. Doch Wiedersehensfreude hatte sich nicht einstellen wollen am Grabe Schillers, des Großherzigsten unter ihnen. Die Gefährten waren von der Abwesenheit Goethes nicht wenig überrascht gewesen: Pollux bleibt der Beisetzung Castors fern? Wieland hatte vermutet, der Grund läge in dessen Nierenleiden oder in dessen Abneigung
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