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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver
Autoren: Robert Löhr
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zur Straße war von den Bauern versperrt, also mussten sie das Dorf anders verlassen, zwischen den Häusern hindurch und über die Stoppelfelder. Der Schnee war schwer und tief, sodass Jäger wie Gejagte nur langsam vorankamen, wie auf einem Bogen Vogelleim, und in der mondlosen Dunkelheit mehr als einmal stürzten. Das Feld fiel bald ab, hörte schließlich ganz auf, Feld zu sein, und wurde Flussufer. Die beiden liefen hinunter bis zum Fluss, aber Schiller setzte keinen Fuß aufs Eis.
    »Tod und Verdammnis!«, schimpfte er. »Die Ilm.«
    »Wohlan, überqueren wir sie.«
    »Von Herzen Dank, aber ich übergebe mich lieber dem Lumpenpack als den Fischen.«
    »Es ist Februar. Gehen Sie nur, das Eis wird uns tragen.«
    »Ihr Wort darauf?«
    »Gehen Sie nur, ich gebe Ihnen mein Wort«, erwiderte Goethe.
    »Der Himmel bewahre mich vor Ihrer Narrheit. – Alter vor Schönheit.«
    Ohne zu zögern, setzte Goethe seinen Stiefel aufs Eis, und wiewohl es hohl unter seiner Sohle knackte, hielt die verschneite Eisfläche seinem Gewicht stand. Schiller säumte bis zuletzt, aber als ihre Jäger auf keine zehn Schritt herangekommen waren, folgte er Goethe. Auch die drei Bauern schickten sich an, den Ilmfluss zu überqueren. Sie sprangen erst dann wieder zurück ans sichere Ufer, als Schiller auf dem letzten Meter mit beiden Beinen einbrach und bis zu den Oberschenkeln in der Ilm versank. Er zeterte wie ein Besenbinder, bis ihn Goethe vom Eise befreit hatte.
    »Sie gaben mir Ihr Ehrenwort, dass ich nicht einbreche!«
    »Ich habe mich offensichtlich geirrt. Aber wir sind in Sicherheit.«
    Als Schiller wieder auftrat, quoll eisiges Wasser aus seinen Stiefeln. Seufzend setzte er sich auf seinen Ho senboden in den Schnee, um die Stiefel ganz zu leeren.
    Ein Schneeball landete zwischen den beiden. Der jüngste der Bauern am anderen Ufer hatte keinen Stein zum Werfen gefunden und sich sein Geschoss daher selbst aus Schnee geformt.
    »Daneben!«, rief Goethe, die Hände als Trichter um den Mund geformt.
    »Wir wissen, wo Sie wohnen, Herr Geheimrat!«, rief der Wortführer mit erhobener Faust über den Fluss zurück. »Frohlocken Sie nicht zu früh! Wir werden Ihnen einen Besuch in Weimar abstatten, den Sie so bald nicht vergessen werden!«
    »Ich freue mich jetzt schon. Sie werden wohl empfangen sein, meine Herren«, erwiderte Goethe lächelnd. »Bis dahin: Leben Sie Kohl!«
    Der Bauer zog seinen jungen Genossen, der bereits Schnee für einen zweiten Ball presste, am Kragen hoch, und gemeinsam stapften die drei zurück nach Oßmannstedt, die Schultern gegen die Kälte hoch an den Kopf gezogen.
    »Mich friert«, klagte Schiller, nachdem ihm Goethe wieder auf die Beine geholfen hatte. »Kalt, kalt und feucht!«
    »Wollen wir zu Wieland und uns dort aufwärmen?«
    »Ich will nicht zu Wieland, ich will heim.« Schiller rieb sich die Arme mit den Händen warm und sah sich im Schein der Sterne nach der Straße um. »Das alles wäre sicherlich nicht passiert, wenn wir stattdessen über die Urpflanze diskutiert hätten.«

    Sie hatten am Mittag Weimar in Richtung Apolda verlassen und beim Wandern entlang der Ilm über Gott und die Welt geplaudert – erst über Napoleon Bonapartes prunkvolle Krönung zum Kaiser der Franzosen zu Nôtre-Dame de Paris, dann über Napoleons Pläne für Europa und schließlich über das Volk der Franzosen als solches und warum deren Revolution so außerordentlich missglücken musste. Darüber hatten sie die Zeit und die Welt um sich herum so sehr vergessen, dass sie sich beim Einbruch der Nacht in Oßmannstedt wiederfanden, wo sie ihre Unterredung in der ersten und einzigen Schenke bei einer Linsensuppe mit geräuchertem Speck, viel Brot und noch mehr Wein fortsetzten.
    Durch das Geweih eines Damhirsches, welches über einem der Fenster hing, auf das Thema gebracht, war Goethe auf den Zwischenkieferknochen zu sprechen gekommen, und sie hatten von der Politik auf die Wissenschaft umgesattelt. Mit Erlaubnis des Wirts nahmen sie den Achtender vom Nagel, und Goethe legte anhand des Tierschädels dar, wo genau der besagte Knochen mit der Kinnlade verwachsen war und dass seine Existenz beim Menschen bislang nur deshalb verworfen wurde, weil das Zwischenkieferbein bereits vor der Geburt nahtlos mit dem Kiefer verwachse. Dieser unscheinbare Knochen, der Schlussstein im menschlichen Gesicht, sei somit nicht mehr und nicht weniger als ein Beweis dafür, dass bei aller Verschiedenheit der lebendigen Erdwesen überall eine Hauptform
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