Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt
Autoren: Sara Gran
Vom Netzwerk:
auf sein Erbe erhoben. Hans Jacobson zum Beispiel, der seine Berufung aufgab, um ins Finanzwesen zu wechseln. Hans hatte ein Vermögen nach dem anderen verdient und fröhlich sein Geld für Frauen, Yachten, Kunst und Drogen verprasst. Inzwischen lebte er unter einer Brücke in Amsterdam. Ich hatte ihn kennengelernt und den Eindruck bekommen, nie einem glücklicheren Menschen begegnet zu sein. Jeanette Foster war eine gute, wenn auch wenig kreative Privatdetektivin für Wirtschaftsspionage gewesen. Sie war im letzten Jahr in Perth gestorben. Und dann war da noch Jay Gleason, der eine betrügerische Fernuniversität in Las Vegas eröffnet hatte. DETEKTIV SEIN  – ODER WENIGSTENS SO AUSSEHEN , so oder ähnlich lauteten die Anzeigen, die er in Magazinen wie
Glücksritter
und
Men’s World
und
Der Detektiv
schaltete.
    Jay war einer von Silettes letzten Schülern. Als er 1975 nach Frankreich zog, um bei Silette zu lernen, war er gerade fünfzehn Jahre alt. Zwei Jahre war es her gewesen, dass Silettes Tochter Belle verschwunden war und mit ihr alle Freude. Angeblich stand Jay eines Morgens einfach vor Silettes Tür. Ohne dem Hausherrn auch nur einen guten Tag zu wünschen, machte der Junge mit den blonden, wilden Locken, dem hübschen Gesicht, den schmutzigen Schlagjeans und dem Rock-’n’-Roll-T-Shirt sich daran, seine Lösung des hundert Jahre zurückliegenden Falles der ermordeten Madame vorzutragen, ein berühmtes, nie aufgeklärtes Pariser Verbrechen, das schon ganz andere Detektive als Jay ins Verderben gestürzt hatte. Jay war überzeugt, auf der richtigen Fährte zu sein und den alten Mann beeindrucken zu können. Der Ex-Mann war es gewesen, da war Jay sich sicher. Als er fertig war, fing Silette herzlich zu lachen an, zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Tochter. Etwas an Jay – sein Eifer, seine Intelligenz, seine Bewunderung – amüsierte den alten Mann.
    »Du irrst dich«, sagte Silette zu dem jungen Amerikaner. Er hatte den Fall natürlich schon vor Jahren gelöst. »Du hast gute Arbeit geleistet. Aber den wichtigsten Hinweis von allen hast du übersehen.«
    »Und der wäre?«, fragte Jay.
    »Schließe die Augen«, sagte Silette.
    Jay gehorchte.
    »Was siehst du?«, fragte Silette.
    Jay zögerte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte den Alten unbedingt beeindrucken wollen.
    »Dunkelheit«, sagte Jay. »Ich sehe nichts. Ich …«
    »Psst«, machte Silette und legte Jay zur Beruhigung eine Hand an den Rücken. »Augen nicht aufmachen. Ich frage, was du siehst, nicht, was du sehen möchtest. Nicht, was du zu sehen glaubst. Benutze deine Augen. Was siehst du?«
    Keiner weiß, was Jay gesehen hat. Aber angeblich sah er etwas – etwas, das ihn zittern und weinen und schließlich vor Silettes Haustür zusammenbrechen ließ. Er weigerte sich, die Augen zu öffnen; er war am Boden zerstört. Zerstört und errettet. Die zwei Seiten der Siletteschen Medaille.
    »Der Sohn war es«, stieß Jay endlich hervor, »der Sohn. O Gott. Er hat seine eigene Mutter umgebracht! Der Sohn war es.«
    Silette lächelte. Die Antwort war richtig. Er bat Jay herein und gestattete ihm zu bleiben.
    Jay stammte aus einer wohlhabenden amerikanischen Industriellendynastie, deren Abkömmlinge in Newport und an Long Islands Goldküste, an den Hainen entlang des Hudson River und auf den üppig bewaldeten Hügeln der mittelatlantischen Staaten siedelten. Er hätte alles aus seinem Leben machen können oder, wie übrigens die meisten seiner Verwandten, nichts. Es ist keine Schande, im Hauptberuf Erbe zu sein, zumindest nicht unter hauptberuflichen Erben. Aber Jay wollte unbedingt Detektiv werden. Inzwischen handelte er mit offiziellen Detektivzertifikaten, die sich wunderbar einrahmen ließen.
    Solch wirre Biografien bewiesen in den Augen der Kritiker, dass Silettes Schule ein Betrug war. Eine Handvoll Silettianer stand Tausenden von gewöhnlichen Detektiven gegenüber und damit quasi unter Dauerbeobachtung. Unsere Feinde erklärten uns für verschroben und unberechenbar, unsere Methoden für übertrieben und unsere Lösungen für theatralisch.
    Die Wahrheit aber war, dass wir ungewöhnlich viele Fälle knackten. Normalerweise bekam ein Silettianer ein Problem erst in die Finger, wenn sich zehn andere Detektive die Zähne daran ausgebissen hatten. Die meisten Fälle wurden einem Silettianer erst unterbreitet, wenn der Klient so verzweifelt war wie eine Krebskranke, die von der Schulmedizin aufgegeben wurde und eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher