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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt
Autoren: Sara Gran
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zu bedeuten hatte. Es war so … so, wie alle immer gesagt haben. Sie wissen ja, wie das ist, alle sagen einem, was man tun soll. Immer. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Na ja, zum Beispiel bin ich heute nach Chinatown gekommen, und ich sehe die vielen Zeichen, aber sie sind in einer anderen Sprache … Es ist wie im richtigen Leben, aber gleichzeitig irgendwie verschoben, wie in einer anderen Zeit. Einem anderen Yuga. Wissen Sie, es ist, als wäre ich mein Leben lang immer gleich nach rechts abgebogen, wenn ich morgens aus dem Haus kam. Und dann eines Tages merke ich, links war auch schon immer da, bloß dass ich es nie beachtet habe. Und statt in Berkeley finde ich mich plötzlich in Chinatown wieder, oder in China. So wie in diesem Traum, wo man in seinem Elternhaus steht und merkt, da gibt es ein Geheimzimmer, von dem einem niemand je was erzählt hat, verstehen Sie? Alle haben davon gewusst, aber keiner hat was gesagt. Einfach so. Und plötzlich ist man der Einzige, der es bemerkt. Es ist, als wüssten die anderen nichts von dem Zimmer. Oder vielleicht wollen sie nichts davon wissen. So als wären sie, na ja, Insekten oder so was. In einem Bienenstock. Ergibt das einen Sinn? Verstehen Sie mich überhaupt?«
    »Ja«, sagte ich, »absolut.«
    »Ich habe mir das Buch dann ausgeliehen«, erzählte Claude. Er hatte sich immer noch nicht beruhigt. »Ehrlich gesagt habe ich es nie zurückgebracht. Womit es sich, genau genommen, wohl um Diebstahl handelt. Aber es war seit 1974 nicht mehr ausgeliehen worden. Auf jeden Fall möchte ich seit jenem Tag Detektiv werden. Ich weiß, wie verrückt das klingt.«
    Ich schwieg. Claude fing an, nervös zu husten. Dann begann er zu weinen; kleine Wasserfäden pressten sich aus seinen Tränenkanälen, knauserig und sparsam zunächst, bis er schließlich schluchzte, als wäre ein Teil von ihm gestorben. Vielleicht die Hoffnung, ein anderer zu sein. Ein normaler Mann mit einem bequemen Leben und einer hübschen Freundin und einem guten Job. All das war nun vorbei oder würde es bald sein. Es war nicht schade drum!
    Wir blieben noch etwa eine Stunde so sitzen. Claude weinte und bekam den Job.
    Ich habe ihn seither nicht mehr weinen sehen.
     
    Jacques Silettes
Détection,
jenes Buch, das sich in der sterilen Stanforder Universitätsbibliothek vor Claudes Füße warf, hatte schon viele Leben ruiniert, nicht nur das von Claude. Oder meins. Ich verbrachte zwei Jahre meines Lebens in New Orleans, um bei Silettes Schülerin Constance Darling in die Lehre zu gehen. Constance hatte den größten Teil der fünfziger und sechziger Jahre in Frankreich bei Silette verbracht, um von ihm zu lernen, was es zu lernen gab. Sie wurden Freunde und später ein Liebespaar. Silette war ein berühmter Detektiv gewesen, der beste in ganz Europa, aber nach der Veröffentlichung von
Détection
schrieb man ihn als Spinner ab. Fast niemand verstand das Buch, wenigstens gab es keiner zu. Stattdessen tat man so, als sei Silette der Verrückte und alle anderen Detektive, die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa und Amerika praktizierten, schlaue Füchse – trotz ihrer grottenschlechten Aufklärungsraten und ihrer idiotischen, pseudowissenschaftlichen Methoden. Silette hatte es vorausgeahnt und war, nach allem, was ich hörte, von der Reaktion nicht allzu gekränkt gewesen. Es muss ihm aber einen Stich versetzt haben, als selbst die engsten Freunde und Kollegen seine Kontaktversuche ignorierten. Im Laufe der Jahre baute er sich einen neuen Kreis aus Freunden und Bewunderern auf. Sie waren wenige an der Zahl und weit verstreut, aber sie waren ihm treu ergeben.
    Jacques Silette war der beste Detektiv, den die Welt je gesehen hatte. Meiner Ansicht nach. Seine Methoden waren ungewöhnlich, aber ich und ein paar andere Anhänger hielten daran fest. Ich habe Silette nie kennengelernt. Er starb 1980 , als ich noch ein Kind war, an gebrochenem Herzen; seine Tochter Belle war entführt und nie wiedergefunden worden. Seine Genialität konnte ihn nicht vor dem Schmerz bewahren. Das hat noch nie funktioniert. Silette war der beste Detektiv der Welt und rutschte am Ende doch in die Rolle des gebrochenen, einsamen Einfaltspinsels ab.
    Constance war Silettes bevorzugte und beste Schülerin gewesen – und seine Geliebte, Freundin und Kameradin. Constance war ein Ast im Siletteschen Stammbaum, und ich war ihre Frucht. Es gab noch andere Äste, andere Detektive, die bei Silette studiert hatten und Anspruch
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