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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt
Autoren: Sara Gran
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saubere Jeans und keine Sneaker, sondern richtige Herrenschuhe. Das machte einen guten Eindruck. Er war schlank und gutaussehend – ich tippte auf einen Elternteil mit japanischen und einen mit afrikanischen Vorfahren, vermischt mit ein paar europäischen Genen. Später erfuhr ich, dass ich richtig lag.
    Ich interviewte ihn.
    »Sie studieren noch?«
    »Ich schreibe an meiner Doktorarbeit«, antwortete Claude. »Mittelalterliche Geschichte.«
    »Nehmen wir an«, sagte ich, »wir würden an einem Fall arbeiten. Ich rufe Sie um fünf Uhr morgens an, nur so, um laut nachzudenken. Wäre das für Sie ein Problem?«
    »Auf keinen Fall«, sagte Claude, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich bin ein Mann der Theorie. Rufen Sie mich jederzeit an. Ich liebe es, laut nachzudenken. Oder Dinge zu tun. Das ist auch gut. Ich kann auch etwas tun.«
    Wenn es ums Tun ging, klang er weniger überzeugt.
    »Warum schreiben Sie eine Doktorarbeit?«, fragte ich. »Und wozu wollen Sie diesen Job?«
    Er seufzte.
    »Ich dachte immer, es wäre das Richtige für mich«, sagte er, »meinen Doktor zu machen. Nach Berkeley zu ziehen. Ich habe von nichts anderem geträumt, seit ich fünfzehn war. Genau so sollte es sein. Und jetzt bin ich hier, und …« Stirnrunzelnd sah er sich im Zimmer um. »Ich glaube, ich will das alles gar nicht mehr«, sagte er. »Was nicht heißen soll, dass ich aufgebe. Noch nicht. Ich habe schon zu viel Arbeit investiert, und meine Berufsaussichten sind wirklich glänzend. Was eine Universitätslaufbahn betrifft. Aber inzwischen weiß ich nicht mehr, ob es das Richtige für mich ist.« Claude hob ratlos die Hände, so als rede er über einen Fremden, einen Verrückten, den er nicht verstehen konnte. »Ich glaube, ich möchte Privatdetektiv werden«, sagte er schließlich.
    »Privatdetektiv«, wiederholte ich. »Warum?«
    »Keine Ahnung«, sagte Claude. »Manchmal habe ich das Gefühl, mir insgeheim nie etwas anderes gewünscht zu haben. Aber der Beruf erschien mir immer so … so …«
    »Brotlos?«, schlug ich vor.
    »Ja«, sagte er. »Und auch zu …«
    »Gefährlich?«
    »Vielleicht«, sagte er. »Aber auch so …«
    Er hob die Hand, um mich zu bremsen. Ich hatte schon wieder den Mund aufgemacht. »So unrealistisch«, fuhr er fort. »Ich meine, davon träumt jedes Kind, oder? Wahrscheinlich ist die Zahl der Konkurrenten astronomisch hoch. Und ich kann keinerlei Erfahrungen vorweisen, nicht mal als Kaufhausdetektiv. Aber als ich hörte, dass Sie auf der Suche nach einem Assistenten sind, beschloss ich, es einfach mal zu probieren. Ich weiß, wie schlecht meine Aussichten sind. Und ich weiß auch, dass Sie Bewerber haben, die viel qualifizierter sind als ich. Aber das Leben ist kurz. Ich dachte mir … ich meine …«
    Claude runzelte die Stirn.
    »Im Jahr 2001 «, fuhr er fort, und auf einmal wusste ich, er sagte die Wahrheit, er sprach sie zum ersten Mal laut aus, »habe ich in der Universitätsbibliothek in Stanford recherchiert. Durch Zufall geriet ich in die Kriminologie-Abteilung, wahrscheinlich, weil ich auf der Suche nach der Strafgesetzgebung im Russland des fünfzehnten Jahrhunderts war. Dieses Buch … ein dünnes Taschenbuch. Es war … ich weiß, es klingt albern. Aber es war so, als wäre es aus dem Regal gefallen und mir direkt vor die Füße. Ich hob es auf und schaute hinein und las einen Absatz: ›Vor allen Dingen sticht das innere Wissen des Detektivs jedes Beweisstück aus, jede Spur, jede rationale Überlegung. Wenn wir dieses Wissen nicht über alles andere stellen, lohnt sich das Weitermachen nicht, weder in der Detektivarbeit noch im Leben.‹«
    Im Zimmer wurde es still. Wir waren in meinem Apartment in Chinatown. Ich bewohnte das oberste Stockwerk eines Hauses an der Ross Alley. Unter mir drei Etagen Leichtindustrie und Immigrantenunterkünfte, fast alles illegal. Mein Apartment war riesig, fast hundertvierzig Quadratmeter groß, und es war sowohl Wohnung als auch Büro. Beziehungsweise weder noch.
    Meine beste Freundin Tracy hatte im Jahr 1980 das gleiche Buch in meinem Elternhaus entdeckt. Das Buch, das uns das Leben rettete und es mit derselben Konsequenz zerstörte.
    Als Claude von dem Moment erzählte, in dem er zu Claude wurde, ließ der Straßenlärm plötzlich nach.
    Claude hatte damals nicht verstanden, was passiert war; ich konnte sehen, dass er es immer noch nicht wusste.
    »Ich weiß nicht«, sagte er traurig und auch ein bisschen wütend, »ich weiß ja nicht mal, was es
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