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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt
Autoren: Sara Gran
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der Stielaugen machte, als sie hereinkam.
    Wer hat, der hat. An der Imbisstheke kriegt man immer ein bisschen mehr als die anderen, man bekommt weniger Strafzettel und niemand, wirklich niemand versucht, sich in der Warteschlange vorzudrängeln. Dann wiederum ist eine hübsche Frau immer nur Objekt, nie Subjekt. Die Leute halten sie für dumm und behandeln sie dementsprechend, was manchmal hilfreich und fast immer ärgerlich ist. Und wenn sie die dreißig überschritten hat, fällt die Rendite Jahr für Jahr kleiner aus. Da ist es doch schlauer, von vornherein anderweitig zu investieren.
    Fand ich. Lydia hingegen zählte zu genau jener Sorte Frau, der Sorte, die aus ihren makellosen Gesichtszügen und der schmalen Taille rausholt, was rauszuholen ist. Wahrscheinlich hatte sie seit ihrem zwölften Lebensjahr nicht mehr selbst für einen Drink bezahlt. Mir sollte es recht sein. Und Paul war es ebenfalls recht. Die zwei unterhielten sich über Bands und Musik, über kubanische
claves
und mexikanische
guitarras
und über gemeinsame Bekannte. Vielleicht waren sie einander schon früher begegnet und hatten es einfach nur vergessen. Sie hatten viele gemeinsame Bekannte, nicht bloß mich. Aber hätten sie sich nicht erinnert?
    Vielleicht waren sie einander schon begegnet, aber eben zum falschen Zeitpunkt. Vielleicht war der richtige Zeitpunkt jetzt gekommen.
    Zwei Menschen beim Verlieben zuzusehen ist, wie wenn man zwei Güterzüge beobachtet, die unaufhaltsam und mit Höchstgeschwindigkeit aufeinander zurasen. Ich tat so, als hätte ich an der Bar ein bekanntes Gesicht entdeckt, und zog mich zurück. Und dann sah ich tatsächlich jemanden, einen Kollegen namens Oliver. Ein fleißiger, aber wenig talentierter Privatdetektiv, der sich auf Kreditkartenbetrug und Unterschlagung spezialisiert hatte. Auf die trüben, traurigen Gewässer der Geldgier.
    »Guck mal«, sagte er, »da hinten ist Lydia Nunez.«
    Ich hatte vergessen, dass Lydia so etwas wie eine Berühmtheit war. Es gab nicht allzu viele hübsche Mädchen in der Stadt, die Gitarre spielen konnten, und über die wenigen, die es gab, wurde in den Medien ausführlich berichtet. So wie New Orleans oder Brooklyn war auch San Francisco stolz auf seine Lokalhelden.
    Außerdem war Lydia eine verdammt gute Gitarristin.
    »Ja«, sagte ich, »wir sind befreundet. Kennst du sie?«
    »Schön wär’s«, sagte Oliver und zog jenes traurige Gesicht, das Männer ziehen, die eine bestimmte Frau nicht haben können. So, als würde er einen Arm oder ein Bein verlieren.
    Oliver gab mir einen Drink aus. Als das Konzert anfing, kamen Paul und Lydia, um mich zu holen, aber ich gab vor, mit Oliver reden zu müssen. Ich sagte ihnen, sie sollten vorgehen. Als ich Oliver Lydia vorstellte, kippte er sich seinen halben Drink auf die Hose. Später ging ich nach unten, um Paul und Lydia zu suchen und ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Aber sie waren längst weg.
     
    In jener Nacht träumte ich zum ersten Mal von Lydia. Ich stand auf dem Dach meines Wohnblocks, der von tiefschwarzem Wasser umgeben war. Am Nachthimmel funkelten weiße Sterne.
    Ich schaute Lydia beim Ertrinken zu.
    »Hilfe!«, schrie sie. Schwarzer Matsch klebte ihr im Gesicht und im verfilzten Haar. »Hilf mir!«
    Ich half ihr nicht. Ich zündete mir eine Zigarette an und schaute ihr beim Ertrinken zu. Dann setzte ich mir eine dicke Brille mit schwarzem Gestell auf und schaute noch genauer hin.
    »Der Auftraggeber kennt des Rätsels Lösung schon«, schrieb Jacques Silette, »aber er verleugnet sein Wissen. Er engagiert die Detektivin nicht, um die Lösung zu finden. Er engagiert die Detektivin, um zu beweisen, dass es keine Lösung gibt. Was natürlich in gleichem Maß auf die Detektivin zutrifft.«
     
    Zwei oder drei Tage später ließ sich Lydia von Eli meine Nummer geben und rief mich an. Wir plauderten kurz über Eli und andere gemeinsame Bekannte, bis das Gespräch auf den wahren Grund für ihren Anruf kam.
    »Es macht dir also wirklich nichts aus?«, fragte sie. »Das mit mir und Paul? Denn wir haben dich sehr gern, und …«
    »Nein«, sagte ich. »Natürlich ist es okay. Ich und Paul sind nicht …«
    »Oh, das weiß ich«, unterbrach mich Lydia, »ich meine, ich hätte ja nie … wenn ihr noch …«
    »Nein«, sagte ich. »Ehrlich. Dann seid ihr also immer noch …«
    »O mein Gott«, sagte Lydia, »wir sehen uns praktisch jeden Tag. Es ist super.«
    »Wie wunderbar«, sagte ich.
    »Wirklich?«, fragte Lydia.
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