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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt
Autoren: Sara Gran
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Verstärker … manches davon ist viel Geld wert. Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Dollar.«
    Huong zuckte die Achseln und ging. Sie wusste, was ich dachte. Ein Raubüberfall, aber kein ungeplanter. Der Täter hatte gewusst, wie viel die Instrumente wert waren und dass jemand zu Hause sein würde. Was bedeutete, dass der Fall nicht schwer zu lösen war. Vermutlich hatten Paul und Lydia sich nie die Mühe gemacht, irgendwelche Seriennummern aufzuschreiben, aber das war egal. Alte Instrumente hatten jede Menge Kratzer, Schrammen und Flecken, anhand deren sie sich identifizieren ließen. Lydia würde ihre und Pauls Gitarren immer und überall wiedererkennen. Außerdem waren beide so erfolgreich, dass sie regelmäßig fotografiert wurden und ihre Ausrüstung somit umfänglich dokumentiert war, zumindest die regelmäßig genutzten Stücke. Wenn wir alle Pfandleihhäuser, Fachgeschäfte und Webseiten für gebrauchte Instrumente im Blick behielten, würden wir innerhalb von ein, zwei Monaten erfahren, wer Paul getötet hatte.
    Nicht, dass das ein Trost für Lydia wäre.
    Ich ging zum Haus und setzte mich neben sie auf die Stufen. Endlich hatte sie zu weinen angefangen, lautlos; die Tränen liefen ihr über die Wangen, und ein ersticktes Dauerschluchzen würgte sie. Nach einer Weile kam Ramirez herüber. Ich hob den Kopf, Lydia nicht. Sie war nicht mehr hier, sie war längst auf den Ozean der Schmerzen hinausgetrieben. Vermutlich war sie gerade dabei zu ertrinken.
    »Meinen Sie, sie kann jetzt aussagen?«, fragte er.
    »Kann das nicht warten?«, fragte ich. »Bis morgen Nachmittag?«
    Er nickte. Wir verabredeten uns für den kommenden Tag um vier Uhr in der Wache des Mission District an der Valencia Street.
    Ich ließ Lydia auf der Treppe sitzen, stieg in mein Auto, fuhr zu einem durchgängig geöffneten Coffee Shop und kaufte zwei Tabletts voll Kaffeebecher und dazu einen Teller mit Snacks für die Officer und die Leute von der Rechtsmedizin. Die meisten von ihnen gaben ihr Bestes, wenn auch oft vergeblich; ich hatte ein Anliegen und war gut beraten, es ansprechend zu verpacken.
    Einige von ihnen kannten mich natürlich schon. Da konnten auch Kaffee und Buttermilchdonuts nicht mehr helfen.
    Aber das war egal. Ich rechnete gar nicht damit, dass die Polizei den Fall aufklären würde. Ich würde es allein schaffen. Wenn sie mir halfen, indem sie ihr Wissen mit mir teilten, war das gut – notwendig war es nicht. Ich würde auch allein auf die Lösung kommen, so wie immer. Ich würde herausfinden, wer Paul ermordet hatte, und dann …
    Noch bevor ich den Gedanken aufhalten konnte, dachte ich: Und dann kann Paul zurückkommen.
    Als die Sonne aufging, packten Polizisten und Kriminaltechniker ihre Sachen zusammen und verschwanden. Als auch die letzten fertig waren und ich sicher war, dass wir nicht mehr gebraucht wurden, legte ich Lydia einen Arm um die Hüfte, half ihr beim Aufstehen und führte sie zu meinem Auto. Ich setzte sie auf den Beifahrersitz, schnallte sie an und schloss die Tür. Ich fuhr zu mir nach Hause, half ihr aus dem Auto, die Treppe hinauf und ins Bett. Ich verabreichte ihr eine Lorazepam, die ich für eine besondere Gelegenheit aufgespart hatte. Nach einer Weile verstummte ihr Dauerschluchzen, und Lydia schlief ein. Ich beobachtete sie. Im Schlaf ballte sie immer wieder die Fäuste, zerrte an den Laken. Ihr Gesicht war in einer heulenden Grimasse erstarrt, auch wenn ihr kein Laut mehr entfuhr. Sie würde nie wieder die Alte sein. Sie war jetzt schon eine andere, eine Frau mit einem anderen Gesicht.
    Ich legte mich aufs Sofa, ohne einzuschlafen. In Lydias Jacke hatte ich eine Schachtel Zigaretten gefunden. Ich rauchte. Ich dachte an nichts. Da, wo sich normalerweise meine Gedanken befanden, klaffte ein großes, weißes Loch. Bald blieb ich an den gestohlenen Gitarren hängen und an der abgeschlossenen Haustür; das Loch füllte sich mit Hinweisen und Verdächtigen und kriminalistischen Details, bis ich irgendwann selbst glaubte, es mit einem ganz gewöhnlichen Fall zu tun zu haben.
    Die Gitarren. Das Schloss. Der Schlüssel. Die Waffe. Der Musiker mit der Pistole im Wohnzimmer. Die Baronin mit der Gitarre in der Küche. Der Fall breitete sich in meinem Kopf aus. Es war nur ein Fall. Ein ganz normaler Fall.
    Vielleicht hielt das Leben nicht mehr für uns bereit. Es war ein einziger, ewiger Fall, nur dass man immer wieder in neue Rollen schlüpfen musste: Detektivin, Zeugin, Auftraggeberin, Verdächtige.
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