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Egeland, Tom

Titel: Egeland, Tom
Autoren: Frevel
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VORWORT
    AN DEM TAG, an dem Grethe starb, begann es am späten Nachmittag zu regnen.
    Durch den Vorhang des Regens sehe ich den Fjord, blank und kalt, wie eine Flut hinter den kahlen Büschen. Stunde um Stunde starre ich auf die Tropfen, die an der Scheibe herabrinnen. Ich denke nach. Ich schreibe. Auf dem Fenster formen die Böen ein wogendes Gitter aus Wasser.
    Ich habe den Schreibtisch ans Fenster geschoben. So kann ich schreiben und gleichzeitig hinausschauen. Im Spülsaum treiben Fetzen verrottenden Tangs. Das Meer schwappt müde an die Felsen am Ufer. Eine Seeschwalbe schreit halbherzig und lebensmüde.
    Die Äste der Eiche draußen auf dem Hof strecken sich nass und schwarz in alle Richtungen; noch immer klammern sich einige Blätter an die Zweige, als wollten sie es nicht wahrhaben, dass der Herbst auch sie bald zu sich holen wird.
    ∗ ∗ ∗
    E s war Sommer, als Papa von uns ging. Er wurde einunddreißig Jahre alt, vier Monate, zwei Wochen und drei Tage. Ich hörte seinen Schrei.
    Die meisten meinen, es sei ein Unfall gewesen.
    In der ersten Zeit nach seinem Tod kapselte Mama sich in einem Kokon aus stiller Trauer ein. Dann begann sie –in einer Art Metamorphose, über die ich nie wirklich hinweggekommen bin –zu trinken und mich zu vernachlässigen. Es gab Gerede. Der kleine Weg zu uns bekam Augen und Ohren , und im Dorfladen wurden mir mitfühlende Blicke zugeworfen. Die Kinder sangen böse Lieder über sie. Mit Kreide malten sie sie nackt auf den Asphalt des Schulhofs. Manche Erinnerungen kleben an einem wie Leim.
    ∗ ∗ ∗
    N atürlich waren sie hier, während ich weg war. Durchsuchten Raum für Raum. Und beseitigten ihre Spuren. Als hätte sie niemals existiert.
    Aber unfehlbar sind sie nicht. Sie haben die vier Seidenbänder übersehen, die schlaff von den Bettpfosten herabhängen.
    ∗ ∗ ∗
    I m Tagebuch halte ich all das fest, was mir im Sommer widerfahren ist.
    Hätte ich nicht die langsam verheilenden Wunden und diesen brennenden Juckreiz, würde ich denken, der Sommer wäre eine einzige, zusammenhängende Wahnvorstellung gewesen und ich befände mich in meinem Zimmer in der Klinik. In einer Zwangsjacke. Voll gestopft mit Diazepam. Vielleicht werde ich nie etwas von dem verstehen, was geschehen ist. Das macht nichts. Das wenige, was ich verstanden habe oder nicht, reicht mir vollkommen.
    Das Tagebuch hat einen dicken ledernen Einband. Ganz unten rechts auf dem Umschlag steht mein Name in goldenen Lettern. Tagebuch von Bjørn Beltø.
    Es gibt zwei Arten von Archäologie. Die historische. Und die seelische: Ausgrabungen im Hirn.
    ∗ ∗ ∗
    D er Stift kratzt über das Papier. Still spinne ich mein Netz aus Erinnerungen.

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ERSTER TEIL
DER ARCHäOLOGE

I
Das Rätsel
    1
    ICH HOCKE INMITTEN eines Musters aus exakt gleich großen Vierecken und suche nach der Vergangenheit. Die Sonne brät mir in den Nacken. Meine Handflächen sind voller Blasen, die schrecklich brennen. Ich bin schmutzig und verschwitzt. Ich stinke. Mein T-Shirt klebt wie ein zähes, altes Pflaster an meinem Rücken.
    Der Wind und das Graben haben eine feine Schicht Sand aufgewirbelt, die wie eine braungraue Staubkuppel über dem Feld liegt. Der Sand sticht in den Augen. Die Staubwolke trocknet meinen Mund aus und pudert mein Gesicht; die Haut fühlt sich an wie eine rissige Hülle. Ich stöhne leise. Es ist nicht zu fassen, dass ich einmal von einem solchen Leben geträumt hatte. Wir müssen ja alle von irgendetwas leben …
    Ich niese.
    » Gesundheit! «, ruft eine Stimme. Verwundert drehe ich mich um. Alle sind mit ihrer Arbeit beschäftigt.
    Die Vergangenheit ist nicht so leicht zu finden. Dabei liegt sie nur ein paar Spatenstiche unter der obersten Bodenschicht. In dem aufgekratzten Viereck zwischen meinen verdreckten Turnschuhen taste ich mich mit den Fingerkuppen durch rohen Humus. Die Kulturschicht, zu der wir uns vorgearbeitet haben, ist achthundert Jahre alt. Kompostgestank liegt schwer in der Luft. In einem seiner Lehrbücher, Archaeological Analysis of the Ancient, schreibt Professor Graham Llyleworth : » Aus dem dunklen Moder der Erde strömt uns die stumme Botschaft der Vergangenheit entgegen. « Hat man so etwa s s chon gehört? Professor Llyleworth ist einer der bekanntesten Archäologen der Welt. Aber er treibt es mit der Lyrik etwas zu weit. Man muss ihm seine Fehltritte verzeihen.
    Jetzt sitzt er im Schatten unter einem Laken, das über vier Pfosten aufgespannt ist. Er liest, pafft eine
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