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Egeland, Tom

Titel: Egeland, Tom
Autoren: Frevel
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Gemeindeverwaltung zärtlich den Kopf. Alles war in bester Ordnung. Und dann stießen sie in der Altertumssammlung im Historischen Museum in der Fredriks Gate auf mich. Den Aufpasser. Den verlängerten Arm der norwegischen Behörden. Einen kurzsichtigen wissenschaftlichen Angestellten, den sie ein paar Monate entbehren konnten. Eine reine Formalität, fast bedauerten sie meine Anwesenheit, aber Vorschrift ist Vorschrift.
    ∗ ∗ ∗
    I n Großmutters Wohnzimmer auf dem Land steht eine alte Uhr und tickt vor sich hin. Schon seit ich ein kleines Kind war, liebe ich diese Uhr. Sie geht nie richtig. Zu den merkwürdigsten Zeiten kann sie plötzlich schlagen. Acht vor zwölf! Drei nach neun! Zwei Minuten vor halb vier! Dann raschelt das Uhrwerk selbstzufrieden mit seinen Federn und Zahnrädern und ruft: Ist mir doch egal!
    Wer hat denn bestimmt, dass all die anderen Uhren auf der Welt richtig gehen? Oder dass sich die Zeit mit Feinmechanik und Zeigern einfangen lässt? Ich mache mir immer so blöde Gedanken. Das kommt von der Arbeit. Wenn man ein fünfhundert Jahre altes Frauenskelett ausgräbt, das das Kind, das es umklammert, nicht loslassen will, verharrt der Augenblick in der Zeit.
    Ein Windhauch trägt mir den salzigen Geruch des Meeres zu. Die Sonne ist erkaltet. Ich verabscheue die Sonne. Die wenigsten von uns denken bei der Sonne an eine zusammenhängende Kernfusion. Ich aber tue das. Und freue mich darüber, dass in zehn Millionen Jahren Schluss ist.
    3
    IN DEM RUF LIEGT der Klang erregter Verblüffung. Professor Llyleworth erhebt sich unter seiner Plane, wachsam witternd wie ein träger, alter Wachhund, der sich fragt, ob er bellen soll.
    Archäologen rufen selten, wenn sie etwas finden. Wir finden immer etwas. Jeder Ruf beraubt uns ein wenig unserer Würde. Die meisten Münzenfragmente und Webgewichte, die wir entdecken, enden zu guter Letzt in irgendeiner hellbraunen Schachtel in einem dunklen Archiv, sorgsam konserviert, katalogisiert und bereit für die Nachwelt. Man muss froh sein, wenn man ein einziges Mal in seinem Leben etwas findet, das in einer Glasvitrine ausgestellt werden kann. Wenn sie nur tief genug in sich gehen, werden die meisten erkennen, dass der letzte wirklich großartige archäologische Fund in Norwegen 1904 in Oseberg gemacht worden ist.
    Es ist Irene gewesen, die gerufen hat. Diplomstudentin der Fachrichtung Klassische Archäologie. Ein begabtes, introvertiertes Mädchen. Ich hätte mich beinahe in sie verliebt.
    Irene ist in Mosches Grabungseinheit. Gestern Morgen hat sie die Reste einer Grundmauer entdeckt. Ein Oktogon, ein Achteck. Der Anblick erfüllt mich mit einer vagen, kribbelnden Erinnerung, die nicht ganz an die Oberfläche dringt.
    Ich habe Professor Llyleworth noch nie so aufgeregt gese hen. Im Laufe von nur kurzer Zeit ist er immer wieder an den Schacht getreten und hat zu ihr nach unten geschaut.
    Jetzt hat sich Irene aufgerichtet, ist auf den Rand des Schachts geklettert und winkt den Professor erregt zu sich.
    Einige von uns anderen sind bereits aufgestanden und auf dem Weg zu ihr.
    Der Professor bläst in seine Pfeife.
    Pfffffff-rrrrrr-iiiiiit!
    Eine magische Pfeife. Alle verharren wie angewurzelt in ihrer Bewegung, wie bei einem alten Super-8-Film, der sich im Vorführgerät verhakt hat.
    Dann bleiben sie gehorsam stehen.
    Auf mich hat die Trillerpfeife keine Wirkung. Hastig nähere ich mich dem Schacht von Irene. Der Professor kommt aus der anderen Richtung. Er versucht, mich mit seinem Blick zu stoppen. Und mit der Pfeife. Pffff-rrrr-iiiit! Aber es gelingt ihm nicht. Deshalb bin ich zuerst dort.
    ∗ ∗ ∗
    E s ist ein Schrein.
    Ein länglicher Schrein.
    Dreißig, vierzig Zentimeter lang. Die äußerste Schicht des braunroten Holzes ist verrottet.
    Der Professor bleibt so dicht am Rand des Schachtes stehen, dass ich mir augenblicklich wünsche, er würde mit seinem grauen Anzug über die Kante rutschen. Die ultimative Erniedrigung. Aber so viel Glück habe ich nicht.
    Das Laufen hat ihn kurzatmig werden lassen. Er lächelt. Mit geöffnetem Mund. Seine Augen sind aufgerissen. Er sieht aus, als bekomme er gleich einen Orgasmus.
    Ich folge seinem Blick. Hinunter auf den Schrein.
    In einer einzigen, langen Bewegung hockt sich der Professor hin, stützt sich mit der linken Hand ab und springt nach unten in den Schacht.
    Ein Raunen ist von den anderen zu hören.
    Mit den Fingerkuppen – den weichen Fingerkuppen, die wie dafür geschaffen sind, Häppchen zu
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