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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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der Dunkelheit blutrot leuchtete. Unwillkürlich wandte sie ihren Blick ab. Die Hände auf der Decke waren die eines kleinen Kindes. Groß, aber mit Babyhaut, und hilflos umklammerten sie nun zwei Autos auf dem Bettbezug.
    Himmel, dachte sie. Dieses Monstrum ist zwölf Jahre alt.
    Zwölf Jahre!
    »Eigentlich«, sagte er und starrte ihr ins Gesicht, »bist du mein Kerkermeister. Das hier ist ein verdammtes Gefängnis!«
    Und die Leiterin des Kinderheims Frühlingssonne, von Oslos einzigem Wohnheim für Kinder und Jugendliche, sah etwas, das sie in ihren dreiundzwanzig Dienstjahren in der Jugendfürsorge noch nie gesehen hatte. Unter den schwarzen schmalen Augenbrauen des Jungen erkannte sie das, was so viele verzweifelte Erwachsene mit sich herumschleppten; Menschen, denen ihre Kinder weggenommen worden waren und die sie, Agnes, mit dem Rest der Bürokratie, die sie verfolgte, auf eine Stufe stellten. Bei einem Kind hatte Agnes Vestavik das noch nie gesehen.
    Haß.

    Mit neuen Versprechungen wurde ich dann aus der Klinik nach Hause geschickt. Alles sei in Ordnung. Er sei nur ein bißchen gierig. Und das liege nur daran, daß er so ein fescher großer Bursche sei. Nach drei Tagen wurde ich in eine leere Wohnung zurückgeschickt. Das Sozialamt hatte mir Geld für ein Bett, einen Wippstuhl und ein wenig Kinderwäsche gegeben.
    Zwei- oder dreimal hatte mich eine Mitarbeiterin besucht, ich hatte mitbekommen, daß sie heimlich in die Ecken schaute und behauptete, sie müsse zur Toilette. Nur um zu sehen, ob es bei 17
    mir sauber war. Als ob das je ein Problem gewesen wäre. So oft, wie ich putze. Bei uns riecht es doch die ganze Zeit nach Ajax.
    Er füllte die Wohnung sofort aus. Ich weiß nicht so recht, aber schon am ersten Abend schien er davon auszugehen, daß das hier sein Platz sei, seine Wohnung, seine Mama. Seine Nächte.
    Er weinte nicht. Er lärmte nur. Andere hätten vielleicht gesagt, er weine, aber das tat er nicht. Er vergoß nur selten Tränen.
    Wenn er ein seltenes Mal wirklich weinte, ließ er sich rasch trösten. Dann hatte er Hunger. Ich steckte ihm die Brust in den Mund, und schon hielt er die Klappe. Ansonsten machte er nur Krach. Einen schreienden, klagenden Krach, und dabei fuchtelte er mit den Armen, strampelte sich aus der Decke heraus und riß sich die Kleider vom Leib. Er füllte die Wohnung dermaßen aus, daß ich ab und zu einfach weg mußte. Ich steckte ihn ins Badezimmer, weil das am besten isoliert ist, und schnallte ihn auf dem Wippstuhl fest. Sicherheitshalber legte ich ringsherum Kissen auf den Boden. Er war erst einige Monate alt, er konnte sich also unmöglich aus dem Stuhl befreien. Dann ging ich. Ins Einkaufszentrum, wo ich eine Tasse Kaffee trank, eine Illustrierte las, Schaufenster ansah. Ab und zu rauchte ich auch eine. Ich hatte während der Schwangerschaft mit dem Rauchen aufgehört und wußte, daß ich nicht wieder anfangen sollte, solange ich ihn noch stillte. Aber hin und wieder mal eine Zigarette konnte doch nicht so schlimm sein. Und trotzdem hatte ich danach jedesmal ein schlechtes Gewissen.
    Als er fünf Monate alt war, nahmen diese Ausflüge ein jähes Ende. Ich war nicht lange weggewesen. Zwei Stunden vielleicht.
    Höchstens. Als ich nach Hause kam, war es beängstigend still.
    Ich riß die Badezimmertür auf, und da lag er, leblos, halb aus dem Stuhl gefallen, den Gurt um den Hals. Ich brauchte eine Weile, ein paar Sekunden vielleicht, um mich so weit zu fassen, daß ich ihn losmachen konnte. Er würgte und hustete und war ganz blau im Gesicht. Ich weinte und schüttelte ihn, und nach 18
    und nach wurde sein Gesicht wieder normal. Aber er war so still.
    Ich drückte ihn an mich und spürte zum erstenmal, daß ich ihn liebte. Mein Junge war fünf Monate alt. Doch empfunden hatte ich bis dahin nichts für ihn. Von Anfang an war alles ganz unnormal gewesen.

    Es war spät. Der Neue war schlimmer, als sie vorhergesehen hatte. Sie blätterte im psychologischen Gutachten, war aber zu nervös, um Einzelheiten mitzubekommen. Und sie wußte ohnehin, was dort stand. Über alle Kinder wurde das gleiche geschrieben, nur jeweils mit einem etwas anderen
    Ausgangspunkt und neuen Wörterkombinationen.

    » Massives jahrelanges Fürsorgedefizit « ; » die Mutter kann den Jungen nicht vor Schikanen schützen « ; » der Junge ist leicht lenkbar « ; » der Junge weist ein schulisches Leistungsdefizit auf « ; » umfassende und ernsthafte Grenzziehungsprobleme « ;
    » der Junge pendelt
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