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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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den Neuankömmling an. Das älteste, ein Mädchen von vielleicht elf, musterte ihn ungläubig von Kopf bis Fuß. Zwei Jungen, die mit ihren identischen Pullovern und kreideweißen Mähnen Zwillinge sein konnten, kicherten, tuschelten und stupsten sich gegenseitig an. Eine rothaarige Vier- oder Fünfjährige saß einige Sekunden ganz verängstigt da, dann rutschte sie von ihrem Stuhl und lief zur einzigen Erwachsenen im Raum hinüber, einer kräftigen Frau, die die Kleine sofort hochhob und ihr beruhigend über die Locken strich.
    »Das ist der Neue«, sagte sie. »Er heißt Olav.«
    »Hab ich doch schon gesagt«, erklärte Olav sauer. »Ich bin der Neue. Bist du verheiratet?«
    »Ja«, antwortete die Frau.
    »Und wohnen hier nur diese Kinder?«
    Seine Enttäuschung war deutlich zu hören.
    »Nein, das weißt du doch«, sagte die Frau und lächelte.
    »Hier wohnen sieben Kinder. Die drei da hinten …«
    Sie nickte zu den dreien am Tisch hinüber und bedachte sie gleichzeitig mit einem strengen Blick. Die Jungen ließen sich davon nicht beeindrucken.
    »Und die da? Wohnt die nicht hier?«

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    »Nein, das ist meine Tochter. Sie ist nur heute mal mitgekommen.«
    Sie lächelte, während das Kind seinen Kopf an den Hals der Mutter schmiegte und sich noch fester an sie klammerte.
    »Ach so. Hast du viele Kinder?«
    »Drei. Das hier ist die Jüngste. Sie heißt Amanda.«
    »Blöder Name. Und außerdem seh ich selber, daß sie die Jüngste sein muß. Du bist doch zu alt, um noch Kinder zu kriegen.«
    Die Frau lachte.
    »Da hast du recht. Jetzt bin ich zu alt. Meine beiden anderen Kinder sind fast erwachsen. Aber möchtest du nicht Jeanette guten Tag sagen? Sie ist fast so alt wie du. Und Roy-Morgan?
    Der ist acht.«
    Roy-Morgan wollte den Neuen durchaus nicht begrüßen. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und tuschelte demonstrativ abweisend mit seinem Nachbarn.
    Jeanette runzelte die Stirn und rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten, als Olav mit ausgestreckter Hand, von der schmutziger schmelzender Schnee heruntertropfte, auf sie zukam. Ehe er Jeanette erreicht hatte und ehe sie auch nur Anstalten machen konnte, die gespreizten Finger zu berühren, die ihr da angeboten wurden, machte er eine tiefe Verbeugung und erklärte feierlich:
    »Olav Håkonsen. Es ist mir ein Vergnügen.«
    Jeanette preßte sich an die Stuhllehne, packte den Sitz mit beiden Händen und zog die Knie bis ans Kinn. Der neue Junge wollte die Hände seitlich herabhängen lassen, aber seine Körperform und seine Kleidung sorgten dafür, daß seine Arme wie beim Michelinmännlein schräg abstanden. Seine offensive Haltung war wie weggeblasen, und er vergaß das Breitbeinig-Stehen. Jetzt berührten die Knie sich unter seinen dicken 7
    Oberschenkeln, und die Spitzen der großen Zehen in den riesigen Turnschuhen zeigten aufeinander.
    Die kleinen Jungen verstummten.
    »Ich weiß, warum du mir nicht guten Tag sagen willst«, sagte Olav.
    Die Frau hatte das kleinste Kind in ein anderes Zimmer gebracht. Als sie zurückkam, entdeckte sie in der Türöffnung Olavs Mutter. Mutter und Sohn sahen einander ungeheuer ähnlich; die gleichen schwarzen Haare, der gleiche breite Mund mit einer auffälligen Unterlippe, die ungewöhnlich weich und außerdem feucht und dunkelrot aussah, nicht trocken und rissig, wie es eigentlich zur Jahreszeit gepaßt hätte. Bei dem Jungen wirkte diese Lippe kindlich. Bei der Erwachsenen sah sie abstoßend aus, vor allem, weil immer wieder eine ebenso rote Zunge hervorschoß und sie anfeuchtete. Neben dem Mund zogen vor allem die Schultern die Blicke auf sich. Genauer gesagt, die Frau hatte gar keine Schultern. Vom Kopf her zog sich ein gleichmäßiger Bogen nach unten, wie bei
    Bowlingkegeln oder Birnen, eine gewölbte Linie, die an unfaßbar dicken Hüften endete, unter denen dicke Oberschenkel und dünne Waden die Gestalt trugen. Ihre Körperform war deutlicher zu sehen als die des Jungen, vermutlich, weil ihr Mantel so eng saß. Die andere Frau versuchte erfolglos, ihren Blick aufzufangen.
    »Ich weiß, warum du mir nicht guten Tag sagen willst«, sagte Olav noch einmal. »Weil ich so fett und häßlich bin.«
    Er sagte das, ohne sich auch nur im geringsten verletzt anzuhören, mit leichtem, zufriedenem Lächeln, fast als wäre es eine soeben erst entdeckte Tatsache, die Lösung eines komplizierten Problems, das ihn nun schon zwölf Jahre lang beschäftigt hatte. Er drehte sich um und fragte, ohne die kräftige Kinderheimangestellte
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