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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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verpaßte.
    Auf Olavs anderer Seite saß Kenneth. Kenneth war mit seinen sieben Jahren der jüngste Hausbewohner. Er mühte sich mit der Butter ab und zerbrach eine Schnitte.
    »Du bist noch ungeschickter als ich«, sagte Olav zufrieden, schnappte sich noch ein Stück Brot, bestrich es sorgfältig mit Margarine und legte es auf Kenneths Teller. »Was willst du darauf haben?«
    »Marmelade«, flüsterte Kenneth und schob die Hände unter seine Oberschenkel.
    »Marmelade, du Trottel! Dann brauchst du doch keine Butter!«
    Olav nahm noch ein Stück Brot, plazierte einen dicken Löffel Blaubeermarmelade in die Mitte und verteilte sie mit energischen Bewegungen.
    »Hier!«
    Er klatschte das Brot auf Kenneths Teller und nahm sich das mit der Margarine. Er schaute sich um.
    11
    »Wo ist der Zucker?«
    »Wir brauchen keinen Zucker«, sagte Maren.
    »Ich will Zucker aufs Brot.«
    »Das ist nicht gesund, das machen wir hier nicht.«
    »Weißt du überhaupt, wieviel Zucker in der Marmelade ist, mit der dieser Trottel da sich vollstopft?«
    Die anderen Kinder verstummten und lauschten interessiert.
    Kenneth war knallrot angelaufen und hörte, den Mund noch voll Brot, zu kauen auf. Maren erhob sich. Christian wollte etwas sagen, aber nun ging Maren um den Tisch herum und beugte sich über Olav.
    »Dann kannst du ja auch Marmelade essen«, sagte sie freundlich. »Übrigens ist das Diätmarmelade, sieh her.«
    Sie griff nach dem Glas, aber der Junge kam ihr mit einer blitzschnellen Bewegung, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, zuvor. Er sprang so plötzlich auf, daß sein Stuhl umfiel, und schleuderte das Glas quer durch das Zimmer gegen die Kühlschranktür. Die Tür wurde eingebeult, das Glas blieb aus unerfindlichen Gründen heil. Ehe irgend jemand ihn aufhalten konnte, stand er vor dem Küchenschrank auf der anderen Seite und riß einen großen Zuckertopf heraus.
    »Hier ist der Zucker«, schrie er. »Hier ist der verdammte Scheißzucker!«
    Er riß den Deckel vom Topf und warf ihn auf den Boden, dann wirbelte er in einer Zuckerwolke durch die Küche. Jeanette lachte. Kenneth weinte. Glenn, der vierzehn war und schon dunkle Haare auf der Oberlippe hatte, murmelte, Olav sei ein Idiot. Raymond war siebzehn und mit allen Wassern gewaschen.
    Er betrachtete den Aufstand mit stoischer Ruhe, nahm dann seinen Teller und verschwand. Die sechzehnjährige Anita folgte seinem Beispiel. Roy-Morgans Zwillingsbruder Kim-André packte aufgeregt und glücklich die Hand seines Bruders. Er 12
    schaute zu Jeanette hinüber und fing ein wenig unsicher ebenfalls an zu lachen.
    Der Zuckertopf war leer. Olav wollte ihn auf den Boden werfen, wurde aber in letzter Sekunde von Christian daran gehindert, denn Christian packte ihn am Arm und hielt ihn mit eisernem Griff fest. Olav schrie und versuchte, sich loszureißen, aber nun stand Maren neben ihm und legte die Arme um ihn.
    Für seine zwölf Jahre war Olav ungewöhnlich stark, aber sie merkte doch nach zwei Minuten, daß er sich langsam beruhigte.
    Sie redete die ganze Zeit leise auf ihn ein.
    »Aber aber, jetzt beruhige dich doch. Es ist alles in Ordnung.«
    Als er merkte, daß Maren den Jungen unter Kontrolle hatte, ging Christian mit den anderen Kindern in den Aufenthaltsraum.
    Kenneth hatte sich erbrochen. Ein kleiner unappetitlicher Haufen aus Brotmasse, Milch und Blaubeeren lag auf dem Teller, den er mit unsicherem Griff mit hinaus nehmen wollte, wie die anderen es ihm vorgemacht hatten.
    »Laß den stehen, du«, sagte Christian. »Ich geb dir eins von meinen Broten.«
    Kaum waren die anderen Kinder verschwunden, als Olav auch schon ganz zur Ruhe kam. Maren ließ ihn versuchsweise los, und er sank wie ein Sitzsack auf dem Boden in sich zusammen.
    »Ich esse immer Zuckerbrot«, murmelte er. »Und meine Mutter findet das in Ordnung.«
    »Dann schlage ich vor«, sagte Maren, setzte sich neben ihn und lehnte den Rücken an die verbeulte Kühlschranktür, »daß du bei deiner Mutter Brot mit Zucker ißt, wie du es gewöhnt bist, und daß du hier so ißt wie wir anderen alle. Ist das nicht eine gute Idee?«
    »Nein.«
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    »Vielleicht gefällt sie dir nicht, aber es muß leider dabei bleiben. Wir haben hier einige Regeln, an die alle sich halten müssen. Alles andere wäre ziemlich ungerecht. Oder nicht?«
    Der Junge gab keine Antwort. Er schien sehr weit weg zu sein.
    Vorsichtig legte sie eine Hand auf seinen dicken Oberschenkel.
    Er reagierte augenblicklich. Er versetzte ihrem Arm einen
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