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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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Schlag.
    » Faß mich nicht an, zum Teufel! «
    Ruhig erhob sie sich, blieb stehen und blickte auf ihn hinunter.
    »Möchtest du noch etwas zu essen, ehe ich abräume?«
    »Ja. Sechs Brote mit Zucker.«
    Maren lächelte kurz, zuckte mit den Schultern und fing an, die Lebensmittel in Plastikfolie zu wickeln.
    »Muß ich in diesem Drecksloch auch noch hungrig ins Bett gehen?«
    Jetzt blickte er ihr zum erstenmal in die Augen. Seine waren ganz schwarz, zwei tiefe Löcher in seinem fetten Gesicht. Ihr kam der Gedanke, daß er hätte hübsch sein können, wenn er nicht so riesig gewesen wäre.
    »Nein, Olav, du brauchst nicht hungrig ins Bett zu gehen. Das liegt allein bei dir. Du bekommst keinen Zucker aufs Brot, jetzt nicht, morgen nicht. Nie. Du wirst verhungern, wenn du darauf wartest, daß wir nachgeben. Alles klar?«
    Er begriff nicht, wieso sie so ruhig bleiben konnte. Es verwirrte ihn, daß sie nicht nachgab. Er konnte noch immer nicht fassen, daß er hungrig zu Bett gehen sollte. Ganz kurz dachte er, daß Salami eigentlich auch gut schmeckte. Doch diesen Gedanken ließ er sofort wieder fallen. Mühsam und vor Anstrengung schnaufend kam er auf die Beine.
    »Ich bin verdammt noch mal so fett, daß ich nicht mal aufstehen kann«, sagte er leise zu sich selbst und ging zur Tür.
    »Du, Olav!«
    14
    Maren hatte ihm den Rücken zugekehrt und untersuchte die Beule im Kühlschrank. Er blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um.
    »Es war sehr nett von dir, daß du Kenneth bei seinem Brot geholfen hast. Er ist so klein und empfindlich.«
    Der Zwölfjährige blieb kurz stehen und zögerte, dann drehte er sich langsam um.
    »Wie alt bist du?«
    »Ich bin sechsundzwanzig.«
    »Ach so.«
    Olav ging hungrig ins Bett.

    Raymond schnarchte. Er schnarchte wirklich wie ein Erwachsener. Das Zimmer war groß, und im trüben Licht, das aus der Nacht draußen kam, konnte Olav über dem Bett seines Zimmernachbarn ein riesiges Rednex-Plakat erkennen. In der Ecke stand ein zerlegtes Geländefahrrad. Raymonds
    Schreibtisch war ein Chaos aus Schulbüchern, Butterbrotpapier, Comics und Werkzeug. Olavs eigener Tisch stand kahl und nackt da.
    Das Bettzeug war sauber und ein bißchen steif. Es roch fremd, aber gut. Irgendwie nach Blumen. Es war viel schöner als das bei ihm zu Hause, es war mit Formel-1-Autos in vielen Farben bedruckt. Kissen- und Deckenbezug hatten dasselbe Muster, und das Laken war blau, so wie einige Autos. Zu Hause hatte er nie passendes Bettzeug gesehen.
    Die Vorhänge bewegten sich im Luftzug des angekippten Fensters. Raymond hatte es so haben wollen. Olav war an ein warmes Schlafzimmer gewöhnt, und obwohl er einen neuen Schlafanzug und eine warme Decke hatte, fror er ein wenig. Er hatte Hunger.
    »Olav!«
    15
    Das war die Heimleiterin. Oder Agnes. Sie flüsterte von der Tür her: »Schläfst du?«
    Er drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und gab keine Antwort Geh weg, geh weg, sagte eine Stimme in seinem Kopf, aber das half nichts. Jetzt saß sie auf der Bettkante.
    »Faß mich nicht an!«
    »Ich will dich nicht anfassen, Olav. Ich will nur ein bißchen mit dir reden. Du bist beim Abendessen wütend geworden, habe ich gehört.«
    Kein Wort.
    »Du mußt doch verstehen, daß ihr euch hier nicht so aufführen könnt. Stell dir vor, alle würden die ganze Zeit Zucker und Marmelade an die Wand werfen!« Sie lachte ein leises, perlendes Lachen. »Das wäre vielleicht eine Bescherung!«
    Er sagte noch immer nichts.
    »Ich habe dir was zu essen mitgebracht. Drei Brote. Mit Wurst und Käse. Und ein Glas Milch. Ich stelle alles neben dein Bett.
    Wenn du es essen magst, freue ich mich, wenn nicht, dann können wir ausmachen, daß du es morgen früh wegwirfst, ohne daß die anderen es sehen. Dann weiß niemand, ob du es gegessen hast oder nicht. Okay?«
    Der Junge bewegte sich ein wenig und drehte sich dann plötzlich um.
    »Hast du entschieden, daß ich hier wohnen muß?« fragte er wütend.
    »Nicht so laut«, sagte sie. »Sonst weckst du Raymond. Nein, du weißt genau, daß ich das nicht entscheiden kann. Meine Aufgabe ist es, mich um dich zu kümmern. Zusammen mit den anderen Erwachsenen. Das wird schon alles gut laufen. Auch, wenn deine Mutter dir sicher fehlen wird. Aber du kannst sie ja oft besuchen, das darfst du nicht vergessen.«
    16
    Jetzt hatte er sich im Bett halb aufgesetzt. Im trüben Licht sah er aus wie ein dicker Dämon; seine rabenschwarzen Haare mit der unvorteilhaften Frisur, der breite Mund der selbst in
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