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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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anzusehen, wo er wohnen würde.
    »Würdest du mir bitte mein Zimmer zeigen?«

    8
    Die Frau streckte die Hand nach seiner aus, aber statt danach zu fassen, machte der Junge mit dem Arm eine galante Bewegung und verbeugte sich leicht.
    »Damen haben Vortritt.«
    Dann watschelte er hinter ihr her in den ersten Stock.

    Er war so groß. Und ich wußte, daß etwas nicht stimmte. Sie legten ihn mir in die Arme, und ich empfand keine Freude, keine Trauer. Sondern Ohnmacht. Eine riesige, schwere Ohnmacht, so als sei mir eine Aufgabe gestellt worden, der ich niemals gewachsen sein würde. Sie trösteten mich. Alles sei ganz normal. Er sei einfach nur groß.
    Groß! Normal? Hatten sie je versucht, einen Brocken von 5340 Gramm aus sich herauszupressen? Ich war drei Wochen über die Zeit, aber das wollte die Ärztin mir nicht glauben. Als ob die eine Ahnung hätten! Ich wußte genau, wann er entstanden war. An einem Dienstagabend. Einem der Abende, an denen ich nachgegeben hatte, weil ich keinen Streit wollte, als meine Angst vor einem weiteren seiner Wutanfälle so groß war, daß ich nicht dagegen ankonnte. Nicht an diesem Abend.
    Nicht bei dem vielen Alkohol im Haus. Am nächsten Tag hatte er dann seinen tödlichen Unfall gebaut. An einem Mittwoch. Und seither hatte ich keinen Mann in meine Nähe gelassen, bis dieses schwabbelige Baby mit einem Lächeln auf die Welt kam. Das stimmt! Er lächelte! Die Ärztin behauptete, das sei nur eine Grimasse. Ich weiß, daß es ein Lächeln war. Dieses Lächeln hat er noch immer, hat er immer gehabt. Seine beste Waffe. Zum letztenmal geweint hat er mit anderthalb Jahren.
    Sie legten ihn auf meinen Bauch. Eine unbegreifliche Masse neues Menschenfleisch, das sofort die Augen aufriß und mit seinem breiten Mund meine Haut nach der Brust absuchte. Die Leute in den weißen Kitteln lachten und gaben ihm noch einen Klaps aufs Hinterteil. Was für ein kleiner Kobold, sagten sie.

    9
    Ich wußte, daß etwas nicht stimmte. Sie sagten, alles sei normal.

    Acht Kinder und zwei Erwachsene saßen um einen ovalen Eßtisch. Sieben Kinder sprachen zusammen mit den
    Erwachsenen ein Tischgebet. Der Neue hatte recht gehabt. Er war bei seiner Ankunft nicht in die Küche geführt worden.
    Die Küche lag weiter hinten in der großen umgebauten Villa aus der Jahrhundertwende, und damals war sie wahrscheinlich nur eine Anrichteküche gewesen. Sie war anheimelnd und gemütlich, mit blauen Möbeln und Flickenteppichen. Das einzige, was hier anders war als in einem normalen Wohnhaus, waren die ungewöhnlich große Kinderschar und die
    Dienstpläne. Die hingen an einer großen Pinnwand neben der Tür, die in eins der Wohnzimmer führte, in den
    Aufenthaltsraum, das wußte der Neue schon. Außer mit den Namen waren die Dienstpläne auch mit kleinen Fotos der Angestellten versehen. Der Junge hatte erfahren, daß nicht alle Kinder lesen konnten.
    »Ha, die können nicht lesen!« hatte er spöttisch kommentiert.
    »Die sind doch alle schon über sieben!«
    Als Antwort hatte ihm die kräftige Frau, die die Heimleiterin war, nur ein freundliches Lächeln zugedacht.
    »Das heißt nicht Heimleiterin«, hatte er behauptet. »Das heißt Heimleiter. Immer. Genau wie es Doktor heißt, auch bei einer Frau.«
    »Mir gefällt Heimleiterin aber viel besser«, sagte die Frau.
    »Außerdem kannst du mich Agnes nennen. So heiße ich nämlich.«
    Agnes war jetzt nicht da. Die Erwachsenen am Abendbrottisch waren viel jünger. Der Mann hatte noch jede Menge Pickel. Die Frau war ziemlich hübsch, sie hatte lange blonde Haare, auf eine seltsame Weise schon ganz hoch oben am Kopf zu einem Zopf 10
    geflochten, der in einer roten Seidenschleife endete. Der Mann hieß Christian, die Frau Maren. Alle faßten einander an den Händen und sangen ein kurzes Lied. Der Junge wollte nicht mitmachen.
    »Das brauchst du auch nicht, wenn du nicht willst«, sagte Maren. Sie war wirklich lieb. Dann fingen sie an zu essen.
    Neben Olav saß Jeanette, die ihn morgens nicht hatte begrüßen wollen. Sie war auch ein bißchen dick, und immer wieder lösten sich ihre struppigen braunen Haare aus dem Gummiband. Sie hatte nicht neben Olav sitzen wollen, aber Maren hatte jegliche Diskussion energisch unterbunden. Jetzt war sie so weit an die Stuhlkante herangerückt, wie es überhaupt nur möglich war, was wiederum Roy-Morgan veranlaßte, ihr immer wieder den Ellbogen zwischen die Rippen zu stoßen und sich zu beschweren, weil sie ihm angeblich Mädchenläuse
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