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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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loswerden. Die Polizei entdeckt doch alles.
    Es war ganz dunkel auf dem Spielplatz, und eine alte, kniehohe Steinmauer trennte ihn vom Nachbargrundstück. Ich konnte die Messer zwischen die Steine schieben. Tief hinein. Zuerst habe ich sie noch gründlich abgewischt. Wahrscheinlich werden sie nie gefunden. Aber ich mußte ihn beschützen. So wie ich immer versucht habe, ihn zu beschützen.
    Er ist mir so oft weggenommen worden. Stück für Stück. Im Kindergarten, in der Schule, vom Jugendamt. Ich habe ihn nie behalten können.
    Aber ich habe es wirklich versucht, bei Gott. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben.
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    Und jetzt, wo ich hier sitze, auf seinem Bett, und den Geruch seines Schlafanzuges wahrnehme, süß und ziemlich stark, und weiß, daß er für immer fort ist und daß es Nacht und dunkel und sehr still ist, bleibt mir nichts mehr. Nichts.
    Nicht einmal ich selbst.
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    Maren Kalsvik stand im Zeugenstand in Oslos neuem
    Gerichtsgebäude und fror ein wenig. Der Richter unterschrieb gerade irgendein Dokument, das ihm ein Anwalt, zivil gekleidet, ungeduldig hingelegt hatte. Hanne Wilhelmsen sah müde aus und versuchte vergeblich, mit ihrer schmalen Hand ein Gähnen zu verbergen. Sie war förmlicher gekleidet, als Maren Kalsvik es je an ihr gesehen hatte, schwarzer Rock, schwarze Bluse, grauschwarzes Jackett und ein Seidenschal in gedämpften Erdfarben.
    Die Hauptkommissarin hatte sie mit Respekt behandelt. Sie hatte ihr Mitgefühl gezeigt. Sie war nicht ungeduldig geworden, obwohl sie während des gesamten Wochenendes immer wieder ihre Theorien vorgetragen hatte, ohne daß Maren auch nur eine Miene verzogen hätte, um zu bestätigen oder abzustreiten, was vor etwas mehr als vierzehn Tagen an jenem fatalen Abend in Agnes Vestaviks Büro passiert war. Sie hatte sich geweigert, mit einem Anwalt zu sprechen.
    Ja, sie war dort gewesen. Eirik hatte geschlafen, was ihren keimenden Verdacht, daß er irgend etwas nahm, was er nicht hätte nehmen dürfen – jedenfalls nicht, solange er auf acht schlafende Kinder aufpassen mußte –, noch verstärkt hatte.
    Ihre Begegnung mit Agnes Vestavik dagegen war kürzer ausgefallen, als Hanne Wilhelmsen annahm. Sie hatte zehn Minuten gedauert. Eigentlich hatte sie um Gnade flehen wollen.
    Ihr ganzer Stolz war verschwunden, als ihr aufging, daß sie ihre Arbeit und damit ihre gesamte Existenz verlieren würde.
    Agnes hatte ihr von Terje erzählt. Und daß sie wußte, daß Maren es wußte. Ihre leise Stimme hatte fremd und verzerrt geklungen, voller Zorn, den sie aus Rücksicht auf acht schlafende Kinder beherrschen mußte. Sie könne das mit dem 285
    Zeugnis verstehen, hatte Agnes gesagt. Sie könne es verstehen.
    Für einen Moment hatte sie so etwas wie Mitleid gezeigt, und ihre Stimme hatte fast normal geklungen. Aber nicht lange. Sie konnte den eigentlichen Betrug nicht verzeihen. Daß Maren sie hintergangen hatte, um eine Unterschlagung zu vertuschen.
    Agnes hatte wütend ihre Papiere geschwenkt, mit der einen Hand das gefälschte Zeugnis, mit der anderen die Übersicht über Terjes Vergehen.
    Maren Kalsvik hatte um Gnade flehen wollen. Doch dann hatte sie Agnes in die Augen geschaut und begriffen, daß das keinen Sinn hätte.
    Agnes hatte ihr eine Woche gegeben, um ihr
    Kündigungsschreiben einzureichen. Und sie hatte nichts mehr tun können. Sie hatte sich umgedreht und leise das Büro verlassen.
    Auf der Treppe war sie einen Moment stehengeblieben, weil ihr die Tränen kamen. Sie versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken, und als sie glaubte, aus einem der Kinderzimmer ein Geräusch zu hören, schlich sie die Treppe hinunter. Eirik schlief noch immer. Draußen war sie dann losgerannt. Sie mußte weg. Sie lief um das Haus herum, stürmte durch den Garten, stolperte über den Zaun und schaffte es irgendwie bis nach Hause.
    Als Eirik zwei Stunden später anrief, kämpfte sie mit einer Erleichterung, die sie zusammen mit den Schuldgefühlen überkommen hatte. Nur wenige Minuten später stand sie allein in Agnes’ Büro, und da lag es. Das Zeugnis. Auf dem Schreibtisch, zusammen mit anderen Papieren. Eirik hatte es nicht gesehen. Sie faltete es zusammen und steckte es in die Tasche. Ohne weiter nachzudenken.
    Sie hatte gedacht, es sei Terje gewesen. Bis sie seinen Abschiedsbrief erhalten hatte. Dann hatte sie das Schlimmste befürchtet. Und es hatte sich bestätigt. Olav hatte sie laufen 286
    sehen. Er hatte sie weinen sehen. Er hatte ihr vor seinem Tod die ganze
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