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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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zwischen ausagierendem, aggressivem Verhalten und einem parentifizierten, übertriebenen und fast galanten Auftreten seiner Mutter und anderen Erwachsenen gegenüber, was einwandfrei die Hypothese von ernsthaften Entwicklungsstörungen als Folge des Fürsorgedefizits untermauert « ; » die mangelnde Impulskontrolle kann in Kürze für seine Umwelt zur Gefahr werden, wenn er nicht in einen geeigneten Fürsorgebereich kommt, wo er Festigkeit, Sicherheit und Vorhersagbarkeit erlebt, die ihm so sehr fehlen « ; » der Junge tritt anderen Kindern mit einer Erwachsenenhaltung gegenüber, die ihnen angst macht, deshalb wird er ausgestoßen und verfällt in aggressives, asoziales Verhalten. «
    Eigentlich landeten nur die allerschlimmsten Fälle hier im Heim. Kinder, die aus irgendeinem Grund nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können, werden in Norwegen in 19
    Pflegefamilien gegeben. So ist das. Es ist sehr leicht, für Babys solche Familien zu finden. Auch bei kleinen Kindern, so etwa bis zum Einschulungsalter, gibt es keine großen Probleme. Aber dann wird es sofort schwieriger. Trotzdem klappt es in den meisten Fällen. Abgesehen von den allerschlimmsten. Denn die sind so anspruchsvoll, so verletzt, schon so weit zerstört vom Leben oder von untauglichen Eltern, daß keine Einzelfamilie eine solche Aufgabe bewältigen könnte.
    Solche Kinder landeten bei Agnes.
    Sie unterdrückte ein Gähnen und massierte ihr gutgepolstertes Kreuz. Olav würde sich schon eingewöhnen. Sie hatte noch nie ein Kind aufgegeben. Außerdem war Olav strenggenommen im Moment nicht ihr ärgstes Problem. Sie versuchte, sich bequem hinzusetzen, was ihr allerdings nicht gelang, dann legte sie Olavs Papiere in eine Schublade und öffnete eine andere. Ein Ordner aus Pappe enthielt fünf Blätter, und diese Blätter starrte sie nun an. Schließlich packte sie auch diese Blätter zusammen, atmete schwer und schloß die Schublade sorgfältig ab. Der Schlüssel war ein wenig verbogen, aber am Ende konnte sie ihn doch herausziehen. Steif erhob sie sich, nahm eine Topfblume aus dem Bücherregal neben dem Fenster und legte den Schlüssel in sein Versteck. Dann blieb sie noch einen Moment vor dem Fenster stehen und schaute hinaus.
    Nachts wirkte der Garten immer größer. Das Mondlicht ließ eisblaue Schatten über den spärlichen Schnee wandern. Ganz hinten, zur Straße hin, an einem niedrigen Drahtzaun, stand Glenns Fahrrad. Sie seufzte und beschloß, ihn diesmal wirklich in die Mangel zu nehmen. Bei Glatteis wurde nicht radgefahren.
    Vor zwei Tagen war Glenn befohlen worden, sein Rad in den Keller zu bringen. Entweder hatte er diesen Befehl nicht befolgt, oder er hatte den Kellerverschlag aufgebrochen und das Rad wieder herausgeholt. Sie wußte nicht so recht, was sie schlimmer finden sollte: schlampige Angestellte oder ein zutiefst ungehorsames Kind.
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    Es zog vom Fenster her, das Fenster war alt und undicht. Sie mußten Prioritäten setzen, und als erstes hatte das Erdgeschoß, wo die Kinder sich tagsüber zumeist aufhielten, neue Fenster erhalten. Die Götter mochten wissen, wann Agnes’ Büro auf der Prioritätenliste auftauchen würde. Sie seufzte leise und ging zur Tür. So wie die Situation zwischen ihr und ihrem Mann im Moment war, sehnte sie sich nun wirklich nicht nach Hause, aber ihr Körper schmerzte vor Müdigkeit. Wenn sie Glück hatte, war ihr Mann schon im Bett.
    Ehe sie ging, schaute sie noch einmal bei Olav herein. Ein Vierteljahrhundert Erfahrung mit Kindern sagte ihr, daß er schlief, obwohl sie den Umriß der schweren Gestalt im Bett nur ahnen konnte. Er atmete ruhig und gleichmäßig, und sie nahm sich die Zeit, seine Decke richtig festzustecken, ehe sie vorsichtig die Tür hinter sich schloß. Und sie hatte gelächelt, weil Brote und Milch verschwunden waren. Sie hielt sich an die Abmachung und ließ Teller und Glas stehen.
    Christian saß, die Beine auf dem Tisch, im Aufenthaltsraum und döste vor sich hin. Maren saß mit hochgezogenen Knien in einem Sessel und las einen Kriminalroman. Als die Heimleiterin das Zimmer betrat, ließ Christian wie im Reflex seine Füße auf den Boden knallen. Er hätte schon längst gehen können, er hatte seit über einer Stunde Feierabend. Aber er war einfach zu faul.
    »Ehrlich gesagt ist es schwer, den Kindern Manieren beizubringen, wo sie dir so ganz und gar abgehen«, sagte Agnes zu dem Studenten, der eine halbe Stelle hatte und zu Abend- und Nachtdiensten eingesetzt wurde. »Und wir
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