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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage
Autoren: Dolores Redondo
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hier herrschte perfekte Ordnung, aber Amaia konnte Floras wütende Energie noch spüren. Sie sah sich um, suchte nach etwas, das nicht stimmte. Da, die Schranktür, sie war nicht ordentlich verschlossen. Sie öffnete sie und entdeckte zu ihrer großen Überraschung, dass es eine Waffenkammer war. Zwei Jagdflinten standen an ihrem Platz, aber eine Lücke zeigte an, dass eine Waffe fehlte. Am Boden des Schranks lagen sechs Munitionsschachteln wild durcheinander.
    Typisch Flora, nicht einmal das wollte sie anderen überlassen. Sie sah sich um, überlegte, welches Puzzleteil ihr noch fehlte. Wohin würde Flora gehen, um ihr Werk zu vollenden? Bestimmt nicht nach Hause, da hätte sie eher die Backstube gewählt oder jedenfalls einen Ort, der mehr mit der anderen Facette ihres Lebens zu tun hatte. Vielleicht der Fluss. Sie ging zur Tür. Als sie am Schreibtisch vorbeikam, sah sie die Probeabzüge von Floras neuem Buch. Das offensichtlich von einem Profi aufgenommene Foto zeigte in leuchtenden Farben ein mit roten Beeren dekoriertes Tablett, auf dem etwa ein Dutzend mit Zuckerstreusel bedeckte Txantxangorris lagen. Darunter stand in Druckschrift: Txantxangorris (nach dem Rezept von Josefa »Tolosa«).
    Sie nahm ihr Handy und rief Engrasi an.
    »Kennst du jemanden namens Josefa Tolosa?«, überfiel sie ihre Tante regelrecht.
    »Ja, aber sie ist schon tot. Josefa Uribe, auch »die Tolosa« genannt, war Víctors Mutter. Sie hatte einen ziemlich starken Charakter. Ehrlich gesagt stand der arme Víctor ganz schön unter ihrer Fuchtel. Und mit deiner Schwester kam er dann sozusagen vom Regen in die Traufe. Víctor heißt mit zweitem Nachnamen Uribe, aber im Dorf waren sie für alle die Tolosas, weil der Großvater von dort war. Viel hatte ich nicht mit ihnen zu tun, aber meine Freundin Ana María war mit Josefa befreundet, wenn du mehr wissen willst, kann ich sie anrufen und fragen.«
    »Nicht nötig, Tante Engrasi«, sagte sie und verließ eilig die Backstube. Sie schaltete ihren Organizer ein, um nachzusehen, ob jemand aus dem Forum ihre Frage beantwortet hatte. Und tatsächlich: Bei alten Motorrädern wurde die Innenwand der Tanks mit Bikarbonat oder Essig gereinigt. Beide Substanzen lösten den Rost. Rostteilchen, an denen noch Reste von Kohlenwasserstoff und Essig waren, die wiederum in feines Ziegenleder eingedrungen waren. Das feine Leder einer Motorradkluft. Amaia konnte sich noch gut erinnern, wie weich das Leder von Víctors Jacke und Handschuhen gewesen war, wie es gerochen hatte, als sie ihn im Regen umarmt hatte.
    Als Kind war Amaia zwei- oder dreimal auf dem Bauernhof von Víctors Eltern gewesen, kurz nachdem er und Flora geheiratet hatten. Damals hatte Josefa noch den Betrieb geführt. An viel erinnerte sie sich nicht mehr: eine ältere Frau, die ihr etwas zu essen gemacht hatte, eine Fassade mit bunten Geranien in gelben Blumentöpfen. Weil ihr Verhältnis zu Flora immer distanzierter wurde, war sie danach nicht mehr dort gewesen.
    Sie fuhr am Friedhof vorbei und begann die Landgüter abzuzählen. Ihrer Erinnerung nach war es das dritte links. Von der Straße aus war es nicht zu sehen, aber ein Stein markierte den Zufahrtsweg. Sie fuhr langsamer, um ihn nicht zu verpassen. Da sah sie Floras Mercedes. Er stand am Straßenrand, an einem Pfad, der in einen kleinen, undurchdringlich wirkenden Wald hineinführte. Sie parkte den Micra dahinter, überprüfte, dass niemand in dem Mercedes saß, und verfluchte die Schnapsidee, ihr Auto zu tauschen, weil sie jetzt ihre Ausrüstung nicht zur Verfügung hatte. Im Kofferraum des Micra fand sie eine kleine Taschenlampe, die allerdings nur noch schwach leuchtete. Trotzdem dankte sie dem Himmel, dass Iriartes Frau so umsichtig war.
    Bevor sie in den Wald hineinging, wollte sie Jonan anrufen, musste aber feststellen, dass sie keinen Empfang hatte. Wegen der tief hängenden Zweige und dem mit Nadeln übersäten Boden kam sie nur mühsam voran, obwohl der Trampelpfad gut erkennbar war. Wahrscheinlich benutzten ihn die Leute aus der Gegend als Abkürzung, und Flora kannte ihn bestimmt noch aus der Zeit, als sie auf dem Bauernhof ihrer Schwiegereltern gewohnt hatte. Dass Flora nicht die offizielle Zufahrt genommen hatte, war ein Hinweis darauf, dass sie die richtigen Schlüsse aus den Informationen gezogen hatte, die der liebesblinde Fermín Montes ihr hatte zukommen lassen. Deshalb hatte sie am Sonntag bei dem gemeinsamen Essen diese Show abgezogen, über die Mädchen gelästert,
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