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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage
Autoren: Dolores Redondo
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ihre Vorstellungen von Anstand und Moral hinausposaunt, die Txantxangorris mitgebracht: um von dem wahren Schuldigen abzulenken, von dem Mann, den sie nie geliebt hatte, für den sie sich aber verantwortlich fühlte, wie für ihre Mutter oder die Backstube.
    Flora beherrschte ihre Welt mit Disziplin, Ordnung und eiserner Kontrolle. Sie war eine der typischen Frauen des Tals, die der Lebenskampf gestählt hatte; die sich um Haus und Land hatten kümmern müssen, während die Männer in der Ferne nach neuen Chancen gesucht hatten; die nach Epidemien ihre Kinder begraben und mit Tränen in den Augen auf dem Feld gearbeitet hatten; die auch die dunkle Seite der Existenz kannten und ihr einfach das Gesicht wuschen, sie kämmten und sonntags mit geputzten Schuhen in die Messe schickten.
    Plötzlich überfiel Amaia ein Funken Verständnis für das Leben, das ihre Schwester führte, und gleichzeitig eine tiefe Abneigung gegen die Herzlosigkeit, die damit verbunden war. Sie dachte an Fermín Montes, wie er im Mark getroffen auf dem Parkplatz gelegen hatte; und an sich selbst, wie sie sich immer wieder der wohlüberlegten Attacken ihrer Schwester hatte erwehren müssen. Und an Víctor, der geweint hatte wie ein Kind, als er Flora dabei beobachtete, wie sie Fermín Montes küsste; der aus Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit alte Motorräder restaurierte; der wieder auf dem Bauernhof seiner Mutter wohnte, Josefa »die Tolosa«, einer begnadeten Txantxangorri-Bäckerin; der seiner dominanten Mutter entflohen war, nur um bei einer ebenso tyrannischen Frau zu landen. Víctor, der Alkoholiker, der seit zwei Jahren genügend Willenskraft aufbrachte, um trocken zu bleiben; Víctor, ein Mann zwischen dreißig und fünfundvierzig; der empört war über den Trittbrettfahrer, der seine Inszenierung nachgestellt hatte; der besessen war vom Ideal der Reinheit und Redlichkeit, das Flora ihm aufoktroyiert hatte; der sich provoziert gefühlt hatte von der freizügigen Art junger Mädchen; der einen Masterplan entwickelt hatte, um seiner schmutzigen Gedanken Herr zu werden; der zum Mörder geworden war. Vielleicht hatte er seine Fantasien mit dem Alkohol unterdrückt, aber irgendwann hatte er seinen Drang nicht mehr beherrschen können und hatte befolgt, was eine innere Stimme ihm befohlen hatte.
    Der Alkohol hatte Flora vertrieben, was für ihn Geburt und Tod zugleich gewesen war. Einerseits hatte es ihn von ihrer Tyrannei befreit, andererseits hatte es die Nabelschnur durchtrennt zu der einzigen Frau, die er für rein erachtete, dem einzigen Menschen, der ihn zurückhalten konnte. Bestimmt hatte Flora etwas geahnt, hatte die despotische Königin, der nichts entging, gespürt, dass in Víctor ein Dämon hauste, der manchmal die Oberhand gewann. Gewusst hatte sie es spätestens in dem Moment, als Amaia ihr das Stück Txantxangorri gebracht hatte, das man auf Annes Leiche gefunden hatte. So, wie sie ihn in die Hand genommen, daran gerochen und ihn probiert hatte, hatte sie sofort erkannt, woher er stammte, dass er eine Hommage an die Tradition, die Ordnung und nicht zuletzt sie selbst war.
    Oder täuschte sie sich? Wann hatte Flora das Mehl ausgetauscht? Wann hatte sie den Plan gefasst, Montes zu verführen? Hatte sie tatsächlich den Laborbeweis gebraucht, um sich ganz sicher zu sein? War der Auftritt bei Tante Engrasi ein Versuch gewesen, Víctor aus der Reserve zu locken?
    Der Pfad wurde leicht abschüssig. Ein intensiver Harzgeruch stieg ihr in die Nase und reizte die Schleimhäute, sodass ihre Augen zu brennen begannen. Plötzlich erlosch die Taschenlampe, und alles war stockfinster. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie in der Ferne ein Licht, das zwischen den Bäumen zu tanzen schien. Das musste Floras Taschenlampe sein. Um nirgends anzustoßen, streckte sie die Arme aus und leuchtete sich mit ihrem Handy notdürftig den Weg. Obwohl es alle fünfzehn Sekunden ausging und sie nur vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen konnte, beeilte sie sich, um Flora nicht aus den Augen zu verlieren. Plötzlich hörte sie hinter sich ein Rascheln, und als sie sich umdrehte, stieß sie mit dem Gesicht an einen Ast und ließ vor Schreck das Handy fallen. Ihre Stirn begann zu bluten, sie spürte, wie ihr zwei Rinnsale über die Wangen liefen. Benommen tastete sie den Schnitt ab und stellte fest, dass er nicht groß, aber tief war. Sie nahm ihren Schal vom Hals und band ihn um den Kopf wie einen Druckverband, um die
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