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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage
Autoren: Dolores Redondo
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Blutung zu stoppen.
    Sie sah sich um. Von dem Licht zwischen den Bäumen war nichts mehr zu sehen. Sie rieb sich die Augen und spürte das gerinnende Blut auf ihrem Gesicht. Plötzlich hatte sie Angst. Sie hielt den Atem an und horchte, war sich sicher, dass da jemand war. Sie schrie auf, als ein lauter Pfiff ertönte, wusste aber sofort, dass sie nicht in Gefahr war. Wer immer dort stand, wollte ihr helfen, und wenn sie aus diesem Wald je wieder herauskommen wollte, dann mit seiner Hilfe. Wieder ertönte ein Pfiff, diesmal rechts von ihr. Sie ging darauf zu. Dann noch einer, direkt vor ihr. Plötzlich, als hätte jemand einen Vorhang aufgezogen, stand sie auf der Wiese, die sich hinter dem Bauernhof der Uribes erstreckte.
    Das Gras war vor kurzem gemäht worden. Amaia konnte sich nicht mehr erinnern, dass die Wiese so groß war. Das Haus wurde von mehreren Laternen beleuchtet, die auch die alten, wie Kunstwerke platzierten Gerätschaften ins rechte Licht setzten. Da sah sie Flora. Mit dem Gewehr in der Hand ging ihre Schwester entschlossenen Schrittes um das Gebäude herum zum Vordereingang. Sie wollte schon ihren Namen rufen, hielt sich aber zurück, weil ihr klar wurde, dass sie damit Víctor warnen würde. Außerdem stand sie selbst gerade schutzlos auf freiem Feld. Sie rannte, so schnell sie konnte, zum Haus, drückte sich eng an die Wand und zog die Glock von Montes. Dann horchte sie. Nichts. Sie schlich eng an der Wand entlang, blickte sich immer wieder um, weil sie für andere jetzt genauso gut sichtbar war wie Flora vorhin für sie. Schließlich erreichte sie den Haupteingang. Die Tür stand offen, ein dünner Lichtstreifen fiel heraus. Sie gab ihr einen Stoß und sah zu, wie sie langsam aufglitt.
    Außer dem Licht deutete nichts darauf hin, dass jemand im Haus war. Sie durchsuchte die Zimmer im Erdgeschoss, die sich seit den Tagen, als Josefa hier die Herrin war, kaum verändert hatten. Auch nach einem Telefon sah sie sich um, fand aber keins. Mit dem Rücken an der Wand schlich sie vorsichtig die Treppe hinauf. Oben war ein Flur, von dem vier geschlossene Türen abgingen. Am Ende, dort, wo der nächste Treppenabschnitt begann, lag ein weiteres Zimmer. Sie nahm sich einen Raum nach dem anderen vor, allesamt Schlafzimmer, in denen rustikale, handgefertigte Betten mit dicken Blümchenmatratzen standen. Schließlich nahm sie die letzte Treppe in Angriff. Obwohl sie sicher war, dass sich niemand im Haus befand, hielt sie die Pistole mit beiden Händen im Anschlag. Als sie oben an der Tür ankam, pochte ihr Herz so laut, dass sie glaubte, taub geworden zu sein. Sie schluckte und atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Dann trat sie beiseite, öffnete die Tür und machte das Licht an.
    In all den Jahren, die sie nun schon bei der Policía Foral war, hatte sie noch nie einen Altar gesehen. Nur Fotos und Videos, bei ihrem Lehrgang in Quantico. Wie hatte ihr Ausbilder damals gesagt: »Nichts bereitet Sie darauf vor. Er kann überall sein, in einem Schrank, in einer Truhe. Er kann ein ganzes Zimmer einnehmen oder nur eine Kiste. Ganz egal. Wenn Sie einen sehen, werden Sie es nie mehr vergessen. Es ist ein Museum des Grauens, in dem der Mörder all seine Trophäen zur Schau stellt, der Beweis für die moralische Verkommenheit, zu der Menschen fähig sind. Sie können noch so viele Studien, noch so viele Täterprofile und Verhaltensanalysen lesen: Wie es im Kopf eines Teufels aussieht, werden Sie erst begreifen, wenn Sie auf einen Altar stoßen.«
    Sie hätte fast aufgeschrien, als sie die Fotos der Mädchen sah. Es waren dieselben Bilder, die auch im Kommissariat hingen, nur vergrößert. Die Scheiben einer alten Anrichte waren vollgeklebt mit Fotos, Zeitungsausschnitten, Todesanzeigen, ja sogar Totenzetteln; die Familien auf der Beerdigung, die mit Blumen bedeckten Gräber, die Mitschüler, alles aus der Lokalzeitung ausgeschnitten; darunter Fotos vom Tatort, eine regelrechte Dokumentation der einzelnen Schritte; ein Bilderbuch des Grauens, das die Geschichte des Mörders erzählte. Fassungslos betrachtete Amaia die Unmengen von Zeitungsartikeln, von denen einige schon vergilbt waren, gewellt von der Feuchtigkeit; manche waren über zwanzig Jahre alt, kurze Notizen, die von verschwundenen Camperinnen und Ausflüglerinnen berichteten, von Fällen am anderen Ende des Tals und sogar jenseits der Grenze.
    Es war eine Bilderpyramide, an deren Spitze der Name Teresa Klas stand. Sie war die Königin dieses
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