Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage
Autoren: Dolores Redondo
Vom Netzwerk:
Höllenreichs, das erste Mädchen, das Víctor so sehr in den Wahn getrieben hatte, dass er das Risiko eingegangen war, sie nur wenige Meter von zu Hause entfernt zu töten; doch statt aus seinem Wahn zu erwachen, hatte er weitergemordet, hatte sich in den zwei folgenden Jahren drei weitere Opfer gesucht, immer aufreizende Mädchen, die er in den Bergen ziemlich stümperhaft angefallen hatte im Vergleich zu der perfekt inszenierten Art seiner jüngsten Verbrechen.
    Der Altar schilderte Víctors Karriere als Mörder. Drei Jahre lang hatte er gewütet; dann hatte er fast zwanzig Jahre innegehalten. Jahre, in denen er mit Flora zusammen gewesen war, sich mit Alkohol betäubt hatte, unter ihrem Joch gestanden hatte, einem Joch, das er sich selber auferlegt hatte, als einzige Möglichkeit, seine Instinkte im Zaum zu halten. Doch dann hatte Flora sich von ihm getrennt, und er hatte aufgehört zu trinken. Er hatte sie zurückerobern wollen, ihr beweisen wollen, dass er Fortschritte gemacht hatte, dass er alles für sie tun würde. Aber statt ihn mit offenen Armen zu empfangen, hatte ihn Flora kalt abgewiesen.
    Ihre Verachtung war der Zünder gewesen, der Startschuss für erneute Morde an jungen Mädchen, deren aufreizende Körper nicht seinem Ideal einer reinen Frau entsprachen. Unter den Fotos des Altars entdeckte sie auch eines von sich selbst. Einen Moment lang hatte sie den Eindruck, in einen Spiegel zu blicken, denn das Bild hing genau in der Mitte, dem Ehrenplatz. Offenbar hatte Víctor sie aus einem Foto ausgeschnitten, auf dem sie mit ihren Schwestern zu sehen war. Sie streckte die Hand aus, um es zu berühren, hätte es fast weggerissen, als ihre Finger das glatte Papier streiften, weil genau in diesem Augenblick ein Schuss ertönte.
    Flora stand am Eingang zu den Ställen und hatte die Flinte auf Víctor gerichtet. Er wirkte überrascht, aber nicht erschrocken, als freute er sich über ihren Besuch.
    »Flora, ich habe dich gar nicht kommen hören. Hättest du angerufen, hätte ich mir was Anständiges angezogen«, sagte er und streifte seine ölverschmierten Handschuhe ab. Langsam ging er auf den Eingang zu. »Und hätte uns ein Abendessen gemacht.«
    Flora antwortete nicht. Sie stand nach wie vor reglos da und zielte auf ihn.
    »Hast du Hunger? Dann ziehe ich mich schnell um und koche uns was.«
    »Ich will nichts essen, Víctor«, sagte sie mit kalter Stimme.
    »Dann zeige ich dir, woran ich gerade arbeite«, plauderte Víctor einfach weiter, »an einem alten Motorrad.«
    »Backst du heute gar nicht?«, fragte Flora und zeigte mit dem Lauf auf die gusseiserne Tür des Ofens, der in die Wand eingelassen war.
    Víctor lächelte sie nach wie vor an.
    »Nein, erst morgen wieder. Wenn du willst, können wir zusammen backen.«
    Flora schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf.
    »Was hast du getan, Víctor? Warum?«
    »Das weißt du doch. Und warum weißt du auch. Schließlich denkst du genauso wie ich.«
    »Nein.«
    »Doch, Flora«, sagte er mit sanfter Bestimmtheit. »Das hast du selber gesagt, immer hast du das gesagt. Wenn sie rumlaufen wie Huren und die Männer aufgeilen, haben sie es nicht anders verdient, hast du gesagt. Und dass ihnen mal jemand zeigen sollte, was mit bösen Mädchen passiert.«
    »Hast du sie wirklich getötet?«, fragte sie, als hoffte sie, alles wäre nur ein absurdes Missverständnis und er würde es abstreiten.
    »Ich erwarte von niemandem Verständnis, aber von dir schon, Flora. Denn du bist wie ich. Viele denken so wie du und ich, dass die Jugend unser Tal ins Verderben stürzt mit Drogen, Klamotten, Musik und Sex. Am schlimmsten sind die Mädchen, die denken an nichts anderes mehr, nur noch an Sex. Wie die sich anziehen. Wie kleine Nutten. Jemand musste etwas unternehmen, ihnen den Weg der Tradition weisen, Respekt vor ihren Wurzeln einimpfen.«
    Flora sah ihn angewidert an.
    »Wie Teresa?«
    Er lächelte verträumt und neigte den Kopf, als würde er in Erinnerungen schwelgen.
    »Teresa. Ich denke immer noch jeden Tag an sie, mit ihren kurzen Röcken und tiefen Ausschnitten, schamlos wie die Hure Babylon. Sie wurde nur von einem Mädchen übertroffen.«
    »Ich dachte, es wäre ein Unfall gewesen. Du warst damals jung, verwirrt, und das waren alles nur Flittchen.«
    »Du hast es gewusst? Und mich trotzdem genommen?«
    »Ich dachte, du hättest es überwunden.«
    Seine Miene verdüsterte sich, bekam etwas Schmerzliches.
    »Das hatte ich auch. Zwanzig Jahre habe ich dagegen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher