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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage
Autoren: Dolores Redondo
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den Felsen gegraben hatte, sah Amaia unten schon die Scheinwerfer und Absperrbänder. Davor standen Richterin Estébanez und der Vertreter der Staatsanwaltschaft, unterhielten sich leise und sahen immer wieder zu der Stelle, an der die Leiche lag. Zwei Fotografen der Spurensicherung machten Aufnahmen aus allen Blickwinkeln und tauchten den Ort in ein Blitzlichtgewitter. Neben der Leiche kniete ein Kriminaltechniker des Instituts für Rechtsmedizin von Navarra und maß offenbar die Temperatur der Leber.
    Zufrieden nahm Amaia zur Kenntnis, dass alle Anwesenden sich an die Vorschrift hielten und die Absperrung durch die Stelle betraten, die die ersten Beamten markiert hatten. Trotzdem fand sie, dass sich immer noch viel zu viele Leute dort tummelten. Sie wusste, dass ihr Gefühl etwas Absurdes, geradezu Lächerliches hatte und wahrscheinlich von ihrer katholischen Erziehung herrührte. Aber immer wenn sie sich einer Leiche näherte, wäre sie am liebsten allein gewesen, um wie auf dem Friedhof Andacht zu halten, ein Bedürfnis, das durch die professionelle Geschäftigkeit der Kollegen torpediert wurde.
    Langsam ging sie auf den Ort zu, an dem man die Leiche gefunden hatte, nahm ihn näher in Augenschein. Rechts bestand das Ufer aus einer Fläche mit grauen Kieselsteinen, die vermutlich das Hochwasser der vergangenen Monate angeschwemmt hatte. Auf der anderen Seite ging das Ufer nach knapp vier Metern in dichten Wald über. Amaia wartete ab, bis der Polizeifotograf seine Arbeit verrichtet hatte, und stellte sich dann vor die Füße des Mädchens. Sie verdrängte alle Gedanken aus ihrem Kopf, richtete den Blick auf die Leiche und murmelte ein kurzes Gebet. So hielt sie es immer. Erst dann war sie imstande, einen Toten als das Werk eines Mörders zu betrachten.
    Ainhoa Elizasu hatte zu Lebzeiten schöne kastanienbraune Augen gehabt, die nun ins Leere starrten. Ihr Kopf war leicht nach hinten geneigt und gab den Blick frei auf eine grobe Schnur, die sich so tief in den Hals gegraben hatte, dass sie kaum noch zu erkennen war. Amaia bückte sich, um sie genauer zu betrachten. »Sie ist nicht mal über Kreuz gelegt. Da hat offenbar jemand so lange an beiden Enden gezerrt, bis das Mädchen nicht mehr geatmet hat«, murmelte sie leise wie zu sich selbst.
    »Der Täter muss ganz schön viel Kraft haben. Spricht dafür, dass es ein Mann war«, befand Jonan Etxaide, der hinter sie getreten war.
    »Sieht ganz so aus, wobei das Mädchen nicht sehr groß ist, eins fünfundfünfzig vielleicht. Und dünn. Könnte also auch eine Frau gewesen sein.«
    Dr. San Martín verabschiedete sich mit einer Art Handkuss von Richterin Estébanez und kam zu ihnen.
    »Inspectora Salazar, es ist immer wieder ein Vergnügen, Sie zu sehen, selbst unter diesen Umständen«, sagte er gut gelaunt.
    »Ganz meinerseits, Dr. San Martín. Können Sie mir schon was sagen?«
    Der Arzt nahm die Notizen entgegen, die ihm der Kriminaltechniker reichte, warf einen kurzen Blick darauf und ging vor der Leiche in die Hocke. Vorher sah er den jungen Jonan Etxaide prüfend an, als versuchte er seine Kompetenz einzuschätzen. Amaia kannte diesen Blick nur allzu gut. Es war erst wenige Jahre her, dass sie als Anwärterin auf die Inspektorenlaufbahn in der gleichen Situation gewesen war. Auch damals hatte Dr. San Martín, eine anerkannte Koryphäe auf seinem Gebiet, sich das Vergnügen nicht nehmen lassen, sie in die Geheimnisse des Todes einzuweihen.
    »Kommen Sie näher! Sie auch, Etxaide, vielleicht können Sie noch was lernen.«
    Der Rechtsmediziner holte Chirurgenhandschuhe aus seiner Gladstone-Ledertasche und streifte sie sich über. Dann betastete er vorsichtig Kiefer, Hals und Arme des Mädchens.
    »Was wissen Sie über den Rigor mortis , Etxaide?«
    Der Subinspector kramte in seinem Gedächtnis. »Die Totenstarre setzt zuerst an den Augenlidern ein, circa drei Stunden nach dem Ableben«, begann er zu erklären wie zuletzt wahrscheinlich in der Schule, als er einem Lehrer Rede und Antwort hatte stehen müssen. »Dann breitet sie sich über Gesicht und Hals bis zur Brust aus und greift schließlich auf den ganzen Torso und alle Extremitäten über. Unter normalen Umständen ist die vollständige Totenstarre nach etwa zwölf Stunden erreicht. Dann beginnt sie sich wieder aufzulösen, in umgekehrter Reihenfolge, was circa sechsunddreißig Stunden dauert.«
    »Nicht schlecht. Was noch?«, hakte der Arzt nach.
    »Anhand der Leichenstarre lässt sich der ungefähre
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