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Eine naechtliche Begegnung

Eine naechtliche Begegnung

Titel: Eine naechtliche Begegnung
Autoren: Meredith Duran
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    Als das Schrillen der Glocke verstummte, war Nell bereits zur Tür hinaus. Sie wusste, dass sie nicht drängeln sollte. Ein- oder zweimal hatte es eine Panik gegeben und jemand war verletzt worden, hatte sich einen Arm oder ein Bein gebrochen. Aber sie konnte einfach nicht langsamer gehen. Seit ihre Mutter immerzu keuchte, fiel auch Nell das Atmen schwerer. Der heftige Gestank in der Fabrikhalle wurde immer unerträglicher, und sie musste beim Rollen der Zigarren ständig husten. Am Ende des Tages kam es ihr beinahe so vor, als wäre nicht mehr genügend Luft vorhanden, um ihre Lungen zu füllen.
    Hier draußen im trüben Licht der Dämmerung roch es schwefelig nach Kohlenrauch, aber wenigstens gab es Luft zum Atmen, und darauf kam es an. Nell schlängelte sich durch das Menschengewühl: Junge Frauen blieben stehen, um sich ihre Kopftücher umzubinden, den Burschen aufreizende Bemerkungen zuzurufen und zu schwatzen, als gäbe es dafür keinen schöneren Ort als diese abscheuliche, stinkende Fabrik. Vielleicht gab es den tatsächlich nicht.
    Endlich hatte sie das Gedränge hinter sich gelassen. Erleichterung überkam sie, und gleichzeitig hob sich ihre Stimmung. Das war das Gute daran, in einer Fabrik zu arbeiten: Jeder Tag hatte ein glückliches Ende. Gerade wollte sie sich erschöpft an eine Mauer lehnen, als jemand sie am Ellbogen packte.
    Sie riss sich los und sah plötzlich Hannah vor sich stehen.
    »Du hast mich zu Tode erschreckt!«, keuchte Nell.
    Hannahs blasses, sommersprossiges Gesicht strahlte vor Aufregung. »Du bist eine solche Gans, Nellie. Wie hoch ist dein Lohn diese Woche?«
    Nell blickte sich nach Lauschern um. »Neunzehn Schilling.« Von der gebeugten Haltung über dem Arbeitstisch war ihr Nacken furchtbar verspannt, und die schmerzenden Finger würden sie die ganze Nacht wach halten, aber neunzehn Schilling hatte sie noch nie geschafft.
    Wenn ihr Stiefbruder Michael sich seinen Anteil nahm, würden sie allerdings auf zehn Schilling zusammenschrumpfen. Nicht genug, um einen guten Arzt zu holen und trotzdem noch das Essen für nächste Woche zu bezahlen.
    Hannah machte ein langes Gesicht. »Ich hab nur fünfzehn.« Normalerweise schlug sie Nell um fünf Schilling, ihre Hände waren geschickter. »Die Sache gestern hat mich erledigt. Ich kam richtig gut voran, aber dann bekam die Vorarbeiterin einen Anfall, und ich musste den halben Stapel wieder auseinanderrollen. Ach, egal.« Sie strich sich das honigblonde Haar aus der Stirn und wackelte dann mit den Fingern. »Wie findest du meine Handschuhe? Hab ich in Brennans Trödelladen gefunden. Haben mich zwei Tageslöhne gekostet, aber sie sind aus echtem Ziegenleder, hat er gesagt.«
    »Oh, sie sind wunderschön.« Eigentlich waren sie zwischen den Fingern eingerissen, und das weiße Leder war abgenutzt und schäbig. An Hannahs Stelle hätte Nell das Geld für etwas Vernünftiges ausgegeben. Zum Beispiel für gute, robuste Wolle. Einen neuen Kessel. Etwas frisches Obst – oh mein Gott, beim Gedanken an einen knackigen Landapfel lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
    Allerdings hatte Nell Frostbeulen, und Hannah nicht. Wer war also klüger?
    Sie nahm Hannahs Arm und zog sie mit sich den Gehsteig entlang. »Zeig sie nicht deinem Vater.« Wenn Garod Crowley herausfand, dass seine Tochter ein paar Münzen für sich behalten hatte, würde es furchtbaren Krach geben.
    Hannah lachte. »So dumm bin ich nicht!«
    Ein Bursche kam ihnen entgegen und machte ihnen schöne Augen. Nell kannte ihn nicht, also warf sie ihm einen abweisenden Blick zu, damit er weiterging. Er zwinkerte ihr noch kurz zu, bevor er vorbeiging, aber Nell fiel nicht darauf herein – obwohl sie rot wurde: Er hatte Hannah bewundert. Mit dem herzförmigen Gesicht und den großen, samtbraunen Augen war Han in den letzten beiden Jahren gefährlich hübsch geworden.
    »Ach übrigens, Nelly – kommst du heute Abend zum GFS
?
«
    Nell hatte die Zusammenkunft ganz vergessen. Die Damen der
Girls Friendly Society
, eines Hilfsvereins, der Arbeitermädchen unterstützte, neigten zwar dazu, die Mädchen zu belehren und auf unangenehme Weise in ihren Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln. Aber sie besaßen großartige Bücher und liehen sie jedem Mädchen, das sich ihnen anschloss. »Ich wünschte, ich könnte«, sagte sie. Aber Mum ist zu krank, um sie allein zu lassen. Die Mixturen des letzten Quacksalbers haben es nur noch schlimmer gemacht.
    »Du musst kommen! Es wird Tee geben!«
    »Ich weiß.
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