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Der gelbe Handschuh

Der gelbe Handschuh

Titel: Der gelbe Handschuh
Autoren: Alfred Weidenmann
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Nicht nur das Wetter stellt sich auf den Kopf

    Als es zur Pause klingelte, hatte Alexander der Große gerade den Hellespont überschritten und ganz Kleinasien in die Tasche gesteckt.
    „Das dürfte für heute ja auch genügen“, sagte Studienrat Dr. Lebsanft. Dabei setzte er sich hinter das Katheder, schraubte seinen Füllfederhalter auseinander und fing an, sich ins Klassenbuch einzutragen. „Vorerst fliehen die Perser jetzt mal bis zur nächsten Stunde nach Syrien, versuchen ein neues Heer auf die Beine zu bringen, und Alexander marschiert mit seinen Truppen hinter ihnen her.“
    Obgleich es mitten am Vormittag war, brannten im Klassenzimmer der 7 b die drei Deckenlampen. Vor den Fenstern hing der Himmel nämlich dunkelgrau und schwer über der Stadt. Die Wolken streiften beinahe die Fernsehantennen auf den Dächern, und der Funkturm war mit seiner Spitze schon ganz verschwunden.
    „Also bis morgen, meine Herrschaften.“ Studienrat Lebsanft klappte das Klassenbuch wieder zu und machte sich auf den Weg zur Tür.
    „Entschuldigung, Herr Studienrat“, sagte da ein Junge in einem knallroten Wollpullover und stand auf. Er hatte hellblondes Haar und hieß Peter Finkbeiner. „Ich müßte jetzt los, wenn Sie es erlauben.“
    „Hätte ich doch glatt vergessen“, gab der Studienrat zu. „Du bist ja für die zwei letzten Stunden entschuldigt. Also schleich dich und viel Glück!“
    „Ja, es ist reine Glückssache“, erwiderte der Schüler Finkbeiner. „Besten Dank.“
    „Mach’s gut, altes Haus“, rief ein Junge aus der letzten Bankreihe. Die ganze Klasse grinste, und manche hielten
    ihre Daumen senkrecht in die Luft oder machten mit zwei ausgestreckten Fingern das Victory-Zeichen.
    „Ich bin tief gerührt“, grinste Peter zurück, und dann flitzte er los.
    Das Wetter hatte sich über Nacht auf den Kopf gestellt. Gestern war man in der großen Pause noch im Schulhof durch die Sonne spaziert, und heute lag überall hoher Schnee. Es hatte geschneit bis in den frühen Morgen. Und dann war es plötzlich eisig kalt geworden.
    Der Schüler Peter Finkbeiner trabte durch das Schultor und hinüber zum Zeitungskiosk an der Paradestraße. Von dort waren es noch hundert Meter bis zur U-Bahn. Jeder Schritt auf dem festgefrorenen Schnee hörte sich an, als wenn jemand Streichholzschachteln zerbricht.
    Als der Zug aus dem Tunnel gedonnert kam, galoppierte Peter durch die Sperre. Er lief die Treppe hinunter so schnell er konnte und erreichte gerade noch den letzten Waggon. Kurz bevor sich die Türen schlossen, blickte er noch zu der großen Uhr hinüber, die mitten über dem Bahnsteig hing.

    Und haargenau im gleichen Augenblick tat das auch ein anderer Junge. Er war keine zwei oder drei Monate älter als Peter und hieß Ulli Wagner.
    Der Unterschied war nur, daß jeder der beiden Jungen auf eine andere Uhr blickte. Ulli Wagner tat es in der Empfangshalle des Hotels Kempinski, das mitten in der Stadt lag und ganz dicht am Kurfürstendamm. Und im Kempinski war Ulli Wagner Hotelboy. Gleichzeitig war sein Vater dort einer der beiden Chefportiers.
    Die Uhr, um die es sich handelte, hing in der Halle über den gläsernen Türen und zwischen zwei vergoldeten Säulen. Sie zeigte kurz vor elf.
    „Höchste Eisenbahn“, sagte Ulli zu sich selbst und wollte zur Portierloge hinüber. Aber da kam ein Hotelgast in einem Kamelhaarmantel aus dem Lift.
    „Wo bleibt heute meine Times, junger Mann?“ wollte der Kamelhaarmantel wissen.
    „Sorry“, antwortete Ulli. „Die hängt vermutlich noch irgendwo im Nebel herum. Aus London ist noch keine Maschine gelandet. Aber ich bleibe am Ball, mein Herr.“
    „Das wäre sehr freundlich“, meinte der Kamelhaarmantel und übergab Ulli seinen Zimmerschlüssel. „Ich bin am frühen Nachmittag wieder zurück.“
    „Zimmer 514 ist am frühen Nachmittag zurück“, wiederholte Ulli, als er den Zimmerschlüssel an der Portierloge abgab.
    Herr Wagner senior bestellte gerade Opernkarten, während sein Kollege Huber veranlaßte, daß eine Portion Hundefutter auf Zimmer 212 gebracht wurde.
    „Zwei Plätze in der achten Reihe“, notierte inzwischen Portier Wagner und nahm den Telefonhörer wieder vom Ohr. Dabei bemerkte er seinen Sohn, der schon wieder zur Uhr hinüberblickte.
    „Wenn wir nicht zu spät kommen wollen“, meinte der Hotelboy Ulli, „müssen wir jetzt die Kurve kratzen.“
    „Ja, wir sollten pünktlich sein“, antwortete Herr Wagner. „Also in fünf Minuten am
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