Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Gleichnisse

Das Buch der Gleichnisse

Titel: Das Buch der Gleichnisse
Autoren: Per Olov Enquist
Vom Netzwerk:
Trost, dies hänge sicher damit zusammen, dass alle seine Freunde im Begriff schienen zu sterben. Oder schon ihr Leben abgeschlossen, ihre Körper jedoch gedankenlos am Ufer des Flusses zurückgelassen hatten, als sei es noch nicht fertig, zusammengefasst, zurechtgelegt.
    Das Projekt, das er jetzt zu Ende zu führen hatte, war eine revidierte Fassung der Rede für die Mutter, als sie gestorben war, die in dieser berichtigten und aktualisierten Fassung (bald komme ich! warte auf mich! ich bringe den Hund mit!) die Struktur dieses Innehaltens beschrieb, aber ohne die heitere Klarheit und Entschiedenheit der früheren Rede. Hatte er nicht ein Recht auf Unklarheit? Dies würde vielleicht Sibelius’ Achte Sinfonie werden können! die dieser Finne! der Säufer!, den er so bewunderte!, nie geschafft hatte!
    Aber diesmal nicht Sibelius’ Achte, sondern nur seine eigene, unsichtbar und unhörbar für die anderen. Das Lästige am verhinderten Tod der Freunde schien zu sein, dass einige von ihnen sich zuerst dem Tod entschlossen unterworfen , dann jedoch gezögert, mitten im Schritt verharrt hatten, wie zum Beispiel nach einer schwereren Gehirnblutung: als wäre dieser entschlossene und mutige Tod gerade in ihrem Fall etwas Voreiliges.
    Die Freunde waren in mehreren Fällen schwer zu deuten. Es gab etwas unklar Glänzendes oder Blankes in ihren Augen, wenn er, dienstags und freitags bei ihnen zu Besuch, ihre genuschelten Bitten ablas. Ihre Augen glänzten und flehten: Fass zusammen! Sie waren in den letzten Monaten sieben an der Zahl geworden, waren jetzt eine Schar, bald kamen bestimmt noch drei weitere hinzu, eine Art Wäldchen, das auf die Abholzung wartete, nun gut. Er hatte sich lächelnd und optimistisch gezeigt, um seine Machtlosigkeit zu verbergen und seine Angst, wenn er vorübergehend von ihnen Abschied nahm.
    Aber wie sie ihn ansahen! Als wollten sie etwas fragen. Über den Tod vermutlich. Oder das sehr bald aufgebrauchte Leben. Als wäre er ein Experte, oder auf jeden Fall ein Ratgeber. Was für eine Frechheit!
    Sie hatten ja früher auf seinen Rat gehört. Warum nicht jetzt! Aber er konnte ihnen ja nicht raten, den letzten Schritt zu tun. Tut ihn!, konnte er nicht sagen, tut ihn! Sonst tue ich es selbst!
    Das wäre ja unmenschlich, vielleicht nicht einmal klug.
    Am Abend zuvor hatte er seine Abhandlung über die Liebesgeschichte des dänischen Königs Christian IV . mit Kirsten bearbeitet.
    Sie ließ ihn nicht los. Die absonderliche Geschichte von der Liebe Christians IV . zu einer Frau, die behauptete, ihn zu hassen, und ihn deshalb! – dieses deshalb zu begreifen war er zu unschuldig – mit Hilfe des Brenneisens, wie Lisbeth!, vor sich her trieb in den Untergang.
    Etwas musste er jedoch tun, mit gemessenen Handbewegungen und ruhigem Lächeln, und mit Einsichten, die völlig unanwendbar waren, etwas musste er tun.
    Er wusste, dass der Text, den er die Partitur nannte (wie in der Achten Sinfonie!), unter der scheinbar korrekten Oberfläche einen Rat an seine sterbenden Freunde enthalten musste, eine Art Widerrede auf ihre einfältig und beinahe aggressiv fordernden, glänzenden und verwirrten Augen. Dass er mit der Aufzeichnung der entsetzlichen Lebensgeschichte des dänischen Königs ihre Frage beantworten könnte, ganz einfach wie es zusammenhing .
    So dass kein Rest blieb.
    Die Liebe, sagten sie mit ihren brüchigen, dünnen Stimmen, die können wir nie erklären. Aber willst du es nicht versuchen? Eine von ihnen hatte er geliebt. Jetzt wollte sie vielleicht, trotz ihres schiefen, zuweilen sabbernden Lächelns, eine Antwort haben. Saß eingesunken, aber immer noch unerhört schön da, und die hilflosen Fragen hingen stumm zwischen ihnen in der Luft.
    Willst du es nicht versuchen! Willst du es nicht versuchen! Wozu war sonst all das gut, was wir einst versucht haben! Hast du vergessen?
    So ermüdend. Und er nickte immer. Hatte aber nicht vergessen.
    Warum schrieb er sonst? was hatte es für einen Sinn? Er fühlte sich mit wachsender Verzweiflung sicher, dass er auch an kommenden Dienstagen und Freitagen nach dem Besuch bei den Freunden, gegen drei Uhr, nach der Stunde, die er sich zwang, unter mutlosem Gebrabbel bei ihnen zu verweilen, es nicht wagen würde, diese seine berichtigte Fassung, die Klarheit bringen würde, zu beginnen.
    Er hatte einen ersten Satz des historischen Romans geschrieben, der gerade in den Zusammenhang von Tod und Lust Klarheit bringen sollte. Er lautete: Etwas später, vielleicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher