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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest
Autoren: Martin Mosebach
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Riesenrauschs. Wenn im Wein wirklich die Wahrheit liegt, wenn also der eigentliche, vom Bewußtsein sonst getarnte Charakter sich erst in der Trunkenheit enthüllt, dann hatte Doktor Glück die seelische Statur eines sanften, liebenswürdigen zwölfjährigen Knaben. Daß seine Züge gerötet und auseinandergelaufen waren und daß sein dünnes Haar, das er sich im Zustand des Angetrunkenseins zerraufte, nach allen Seiten abstand, fiel im Nachtlicht etwas weniger auf. Ihm half die Dunkelheit. Maruscha hingegen, auf die ein Lichtstrahl aus den Zimmern schien, war womöglich noch strahlender. Die Exzesse – auch sie hatte mehr getrunken, als sie gewohnt war – und die außergewöhnliche seelische Erregung beeinträchtigten sie nicht. Sie war so rein wie eben aus einem lauen duftenden Bad gestiegen.
    »Sie haben mir wunderschöne Blumen geschickt«, sagte sie, als sie ihn erkannte, mit einem neuen, dem eben gewaltsam errungenen Seelenfrieden abgewonnenen Lächeln.
    »Ach, nicht der Rede wert«, und ähnliches Gestammel, was sonst hätte er, auch wenn er nüchtern gewesen wäre, schon zu sagen gewußt, aber unter der Verlegenheit war eine Freude spürbar, die sich ordnend in seinem Gesicht bemerkbar machte. Es war nun nicht mehr wie eine Schippe hingeworfener Kies, es hatte eine Struktur, die von dem liebevollen Leuchten seiner Augen bestimmt wurde. Die beiden machten sich keine bedeutenden Mitteilungen. Auffällig war nur, wie leise sie sprachen. Das wurde geradezu ein Flüstern, als sollten die Fledermäuse, die gelegentlich wie nächtliche Schwalben vorbeischossen, nichts mitbekommen. Maruschas Nähe, der Anblick ihrer frischweißen, sandfarben eingerahmten Brüste, ihr frischer unverbrauchter Atem, ihre Stimme, die gedämpft in seinem Ohr kitzelte, ließen ihn unversehens erschauern, er fühlte, wie es ihn zu ihr zog.
    Fühlte auch sie etwas dergleichen? Sie war doch eine Freundin der Männer. Sie mochte die Männer doch wirklich, viel lieber als die Frauen; selbst Kasia in ihrer ehrfurchtgebietenden Autorität war da nicht ausgenommen.
    »Sie stehen hier so allein, wo ist Ihr Freund?« Die Nacht gab Doktor Glück ein, auch diese Frage, mit schwerer Zunge gestellt, wie ein großes Geheimnis auszusprechen. Hier tat Maruscha nun einen entscheidenden Schritt. Sie bekannte, was sich ereignet hatte. Sie machte es sich selbst klar.
    Sie wisse nicht, wo er sei, wolle es auch nicht wissen. Sie wisse überhaupt nicht mehr, wie es weitergehe. Sie wisse nicht einmal mehr, wo sie heute nacht schlafen werde – in ihre Wohnung wolle sie nicht mehr zurück, am liebsten jedenfalls nicht, und es sei schließlich auch nicht wirklich ihre Wohnung, das habe man ihr soeben klargemacht.
    Nur weil er neben ihr stand und nicht in ihre Augen blickte, wagte Doktor Glück einen Vorschlag, der ihm selbst in seiner Benommenheit noch fast das Herz stillstehen ließ. Er verlasse jetzt das Fest. Im Hintergrund splitterte etwas, etwas Schweres fiel um, ein vergnügtes Heulen begleitete diesen Sturz. Glück nahm das gar nicht zur Kenntnis. Er drehte sich nicht einmal um. Er habe ein Zimmer in der Nähe genommen, im Frankfurter Hof, sie könnten zu Fuß hinübergelangen – es sei ein großes Zimmer – wenn sie wolle, werde er auf dem Sopha schlafen ...
    Sie schob ihm die Hand unter den Arm: »Dann lassen Sie uns sofort gehen, nicht mehr ins Haus, gleich durch den Garten.« Eilig hatten sie es dennoch nicht. Behutsam führte sie ihn die Treppe hinab, dann entschwand das Paar in den Schatten.
    Ein weiteres Gespräch fand zu so später oder auch früher Stunde statt, das in seinem behutsam eine feste Mitte umkreisenden Charakter ebenfalls nicht zu der Auflösung paßte, in die längst alles geraten war. In Doktor Glücks kleinem Kaminzimmer herrschte tatsächlich noch Ruhe. Nach den physikalischen Gesetzen eines Festes werden Menschen von Menschen angezogen; je mehr an einem Ort versammelt sind, um so mehr strömen hinzu, so verwirklicht sich das Problem der Landflucht auch in den kleinen Zirkeln. In diesem Kaminzimmer saßen oder lagen Frau Markies und Sascha Wereschnikow in den tiefen Sesseln, die weniger zum gesprächigen Austausch, als zu einem einsam benommenen Träumen und Ins-Feuer-Starren gemacht waren. Hier begünstigten sie den Austausch der beiden, der gleichfalls vorankam, weil man sich nicht in die Augen sah.
    Wereschnikow war noch am wenigsten belastet in diesem Zusammensein, weil er die Angst vor der Peinlichkeit nicht kannte. Er
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