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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest
Autoren: Martin Mosebach
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bürgerlichem Milieu stammender Feier-Schwarm. Einer hatte offenbar das Fest ausbaldowert und die anderen in Windeseile zusammentelephoniert, solche unwillkommenen Fest-Übernahmen waren in diesen Jahren in Mode. Aber die alte Weisheit aus dem preußischen Kasino galt auch für diese gänzlich unmilitärisch erzogene Schar: »Kadett allein / elegant und fein / Kadett en gros / grob und roh.« Im erstickenden Gedränge war schon vorher dies und das zu Bruch gegangen – ein Vorhang heruntergerissen, Brandlöcher und ausgegossene Rotweinflaschen wie von einem Gemetzel auf dem altrosa Teppichboden, ein umgekippter Kandelaber, der eine Flut flüssigen Stearins ausgespritzt hatte –, aber nun begann erst das eigentliche Zerstörungswerk. Die Herrenlosigkeit der Wohnung teilte sich stimmungshaft mit. Die neuen Besucher stellten fest, daß sie keine Hindernisse zu nehmen hatten. Das brachte eine Verzauberung hervor, als öffneten sich in dieser Stadt geheimnisvoll festliche Räume, in denen Wein und Champagner floß und jedermann einfach nur einzutreten brauchte. Ein Junge entdeckte das Spiel, mit einer durchgerüttelten Sektflasche, deren Korkendraht entfernt war, auf die Napoleonica zu zielen: Schon knallte der erste Korken gegen »Napoleon auf der Brücke von Rivoli«, ein Farbkupfer, dessen altes feinblasiges Deckglas zersprang.
    Währenddessen stand Maruscha weiter am Geländer der Terrasse. Sie fragte sich schon länger nicht mehr, ob einer der drei Herren, die ihretwegen übereinander hergefallen waren, sich hier noch irgendwo aufhielt, besser herumdrückte – ein Übermaß an Würde hatte keiner der drei bewiesen. Wereschnikows Schwäche, Breegens Brutalität und Tomislavs kindisch-eitler Egoismus hatten sich im fackeldurchleuchteten Halblicht dennoch mit unvorteilhaftester Deutlichkeit vorgeführt. An allen dreien hatte sie gehangen, auf unterschiedliche Weise: an dem sie behaglich schwätzend einlullenden Wereschnikow mit freundschaftlicher, beinahe verwandtschaftlicher Sympathie, an Herrn Breegen mit Bewunderung und an dem kleinen Tomislav mit einer Leidenschaft, von der sie täglich innigst hoffte, daß sie erlöschen werde, und deren Ende sie ebenso innig fürchtete.
    Sie sah, daß sie sich zuviel zugemutet hatte. Sie wollte jedem Mann, mit dem sie sich einließ, gerecht werden, das war ihr feierliches Prinzip – nein, sie war nicht leichtfertig, das hatte Kasia vollständig falsch gesehen. Kasia verstand gar nicht, wie ernst sie die Männer nahm; sie hielt es nicht für möglich, daß man das tun konnte, schon gar nicht bei der Freundin, die sie sich als jugendliches zweites Ich auserkoren hatte. Maruscha sollte Kasias Leben fortsetzen. Kasia wollte in dem Bewußtsein leben, nicht ganz zu sterben, weil sie sich neu verkörpert hatte, in einem noch schöneren Körper als dem eigenen, und in einer Seele, die ihre eigene Kälte mit einem Wärme suggerierenden Schmelz umgeben würde. Schluß jetzt mit solchen Projektionen, Schluß mit der Vorstellung, nach Kasias Plan leben zu können. Sie konnte es nicht.
    »Und wenn sie mich dreimal eine Kleinbürgerin nennt – es brennt nicht mehr – es ist eine Wahrheit, gegen die ich nichts einzuwenden habe.« Wenn etwas derart Dramatisches in einer Opernheldin geschieht, daß sie mit eigenen Händen in ihre Brust greift und herausreißt, was dort festgewachsen war, dann tost das Orchester, die Stimme der Diva schwillt an im symphonischen Sturmgeheul und droht den Brustkorb zu zersprengen. Auf der Bühne dieser weitgehend verlassenen Terrasse fand dasselbe lautlos statt. Es riß tatsächlich etwas in Maruschas Brust; ein Bändchen, an dem ihr Herz aufgehängt war, so meinte sie es zu fühlen, riß entzwei, mit einem noch nie erfahrenen Schmerz. Reglos hielt sie das aus. Dann bemerkte sie, daß der Schmerz abzuflauen begann. Seine Spitze brach ab, dann verbreiterte er sich, wurde dabei kraftloser und füllte schließlich den ganzen Brustraum mit einer nicht unangenehmen Glut.
    In diesem Moment trat Doktor Glück neben sie. Das Haus war nicht ohne Herr, der Herr hielt sich nur verborgen. Er spielte Harun al-Rashid im eigenen Palast. Er war nicht angeheitert, er war betrunken. Er hatte sich so frühzeitig geradezu planmäßig betäubt, daß er nun schon wieder aus der ersten Benommenheit erwachte. Man spricht davon, man könne sich nüchtern saufen; um ein ähnliches Phänomen handelte es sich wohl bei Doktor Glück, um eine gewisse Klarheit auf dem Fundament eines
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